Die toten Frauen von Juárez
Hustenanfall aus den tiefsten Tiefen seiner Lungeempor, und er kippte nach vorn wie ein Klappmesser. Er würgte einen Klumpen widerlichen Schleims herauf und spuckte ihn auf den Bürgersteig. Der Himmel im Osten wurde rot.
Als er diesmal tief durchatmete, musste er nicht husten. Seine Lunge fühlte sich flach an, und als Kelly versuchte, sie vom Bauch bis zum Brustbein mit Luft zu füllen, spürte er, dass sie einen Großteil ihres Fassungsvermögens verloren hatte. Die letzten fünf Jahre schienen sich ausgewirkt zu haben wie zehn.
Er zwang sich, ein- und auszuatmen, heftig und inbrünstig, bis seine Rippen schmerzten und die morgendlichen Farben an den Rändern seines Gesichtsfeldes durch die Hyperventilation verschwommen wirkten. Als Kellys Lunge so gut gefüllt war wie es nur ging, lief er los.
Im Vergleich zu seinen Erinnerungen an frühere Sprints war dieser gar nichts; er legte ein ernstes, langsames Schlurfen an den Tag, kaum mehr als ein schneller Spaziergang. Trotzdem fing er sofort an zu schwitzen, sein ganzer Körper verlangte nach mehr Sauerstoff, um den beschleunigten Herzschlag aufrechterhalten zu können, doch Kelly wusste, dass er möglichst gleichmäßig atmen musste, andernfalls würde es ihm schwindlig werden, und er müsste eher früher als später wieder aufhören.
Den rosa Telefonmast, der in den ersten Sonnenstrahlen leuchtete, erreichte er im Handumdrehen. Die zahllosen Flugblätter, mit denen
justicia
eingefordert wurde, flatterten leicht, als wollten sie seine Aufmerksamkeit von seiner albernen Tätigkeit auf ihre Welt der Toten lenken. Kelly schaffte es bis ans Ende des Häuserblocks, dann musste er stehenbleiben; der Telefonmast lag zwanzig Meter hinter ihm, eine breite Straße, auf der schon um diese Zeit dichter Pendlerverkehr herrschte, vor ihm.
Er stützte die Hände auf die Knie, in seinem Brustkorb pochte das überanstrengte Herz. Übelkeit schlug wie eine Woge über ihm zusammen, aber es war nicht so schlimm und dauerte nicht so lang, wie er befürchtet hatte. Wenige Schritte entfernt, an einer Bushaltestelle aus Beton, beobachteten ihn ein Dutzend Frauen in
maquila
-Uniformen – hübsche, schlichte Blusen, Hosen und Gummischuhe –, während die Sonne denschützenden Schatten vertrieb. Sie lachten nicht und zeigten nicht auf ihn; Mexikaner waren nicht so unhöflich wie Gringos.
Er richtete sich auf, lief an der Bushaltestelle vorbei und noch ein Stück auf einem unebenen Bürgersteig im Schatten einer Häuserzeile, die genau wie die in seinem Viertel aussah. Abermals musste er stehen bleiben, diesmal auf dem Parkplatz eines kleinen Kramladens neben einer
taquería.
Er hustete wie zuvor und spuckte noch einen Mundvoll von etwas Unappetitlichem aus. Der Geschmack ließ ihn würgen.
Noch dreimal zwang Kelly sich zu laufen, bis er spürte, wie sein Puls im Gaumen pochte und ihm alles zu sehr weh tat. Schließlich stand er auf einer flachen Brücke über einer betonierten Drainage. Er setzte sich auf das Betongeländer und ließ die Luftwirbel vorbeifahrender Lastwagen über sich hinwegfegen. Die Sonne hatte sich inzwischen vom Horizont entfernt, die Kälte der Nacht löste sich auf.
Wenn es eine Konstante in Juárez gab, dann Lastwagen: Sie fuhren zu den
maquiladoras
oder kamen von den
maquiladoras.
Amerikanische Automobile, deren Insassen von ihren Ferienorten wieder nach Norden flohen, verstopften die Straßen, und die Lastwagen mit den verschwitzten Fahrern am Lenkrad bildeten ihre ständigen Begleiter und bliesen Dieselabgase in die Luft, die die Lungen mit jedem Atemzug in Asphalt verwandelten.
Von seinem Standort aus erblickte er dieselbe Reihe von Fabriken, die er auch von seinem Apartment aus erkennen konnte. Aus der Entfernung sahen sie alle gleich aus, doch die Kartons auf den Ladeflächen der Lastwagen waren mit unterschiedlichsten amerikanischen Namen bedruckt. Kelly hatte GM gewissermaßen vor der Haustür. Aber hier draußen fand man auch General Electric, Honeywell, Du Pont und sogar Amway praktisch überall. Kelly überlegte sich, dass er vielleicht gerade
deshalb
hierblieb; es existierte ein so großer Teil Amerikas diesseits der Grenze, dass man in zwei Welten gleichzeitig leben konnte. Irgendwie.
Letztendlich beruhigten sich sein Puls und sein Magen. Es war kein Feuer mehr in den Lungen. Kelly sprang von seinem Geländer herunter. Der Drang zu laufen war verschwunden, daher ging er so langsam wie immerund spürte neue Schmerzen in den Gelenken und
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