Die toten Frauen von Juárez
damit er nicht völlig wie ein Penner aussah. Die vorderen Taschen waren geräumiger, als sie es bei einer Hose in seiner Größe gewesen wären. Er verstaute die Tütchen so, dass sie nicht zusammengedrückt wurden.
Als sie den offiziellen Teil erledigt hatten, verteilte Estéban das
motivosa.
Diese Tütchen verschwanden in den Gesäßtaschen mit Reißverschluss. Am Ende hatte Estéban gar nichts mehr. Er gab Kelly einen Stapel Pesos. »Den Rest kannst du behalten.«
»Danke«, sagte Kelly.
Wortlos schlenderten sie Richtung Norden. Je weiter sie gingen, desto mehr entfernten sie sich voneinander, bis Estéban weit vorausging und Kelly ihn gerade noch sehen konnte.
An allen Straßenecken standen Huren in Gruppen oder allein. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Gringos, meistens jung und überwiegend betrunken. Kelly spürte, wie er eins mit ihnen wurde; das altbekannte Gefühl, als würde er untertauchen. Sooft das auch geschah, es kam ihm immer wieder seltsam vor. Er fragte sich, ob der dicke Frank immer noch Gras in seinen Fettwülsten verbarg und damit durchkam. Er fragte sich, ob Frank heute Abend irgendwo hier unterwegs war.
Estéban wählte die Plätze aus, Kelly folgte ihm. Er kam an einem uniformiertenPolizisten mit einer Waffe im Halfter und einem Schlagstock in der Hand vorbei. Der Blick des Polizisten glitt über ihn hinweg; Kelly war unsichtbar für ihn. An Einkaufsabenden, wenn sie durch die
turista - Bars
zogen, spielte Estéban den Auffälligen. Wo die
Juárenses
ihre Freitagabende verbrachten, da trugen die Polizisten schusssichere Westen und automatische Waffen, keine kleinen Pistolen und Stöcke.
Jeder mit auch nur einem halben Hirn im Kopf bekam südlich der Grenze einfach alles. Die Rio Grande Pharmacy und tausend andere ähnliche Unternehmen lebten davon, dass sie Kunden bedienten, die die Ware kannten. Aber die
turistas
waren dumm: Sie bezahlten zu viel für Bier, zu viel für Sex, zu viel für alles. Die Faszination der
farmacias
bestand darin, dass die Rezepte manchmal Verhandlungssache und die Preise günstig waren, aber Collegeschüler, speziell Teenager, wussten das entweder nicht oder hielten die
farmacias
für eine Art Falle. Lieber bezahlten sie einem Mann wie Estéban die in Amerika üblichen Preise, statt dasselbe Geschäft binnen fünf Minuten wesentlich günstiger in einem Laden ohne Lärm und Rauch und Menschenmassen abzuwickeln.
Kelly genehmigte sich mit Estébans Pesos in den Bars ein paar Biere. Aus Lautsprechern unter der Decke wummerte laute amerikanische Musik. Es stank nach Körpern, Getränken und Zigaretten. Estéban streifte durch die Menschenmenge und schlenderte hin und wieder zu Kelly zurück. Er drückte Kelly amerikanisches Geld in die Hand und flüsterte seine Bestellung. »Zwei Oxy, eine
aracata
«, sagte er, worauf Kelly ihm zwei Tütchen Pillen und ein Tütchen Gras gab.
An Einkaufsabenden trug Estéban nichts bei sich. So lief das, weil Kellys Gesicht dasjenige war, das die Polizisten nicht sahen oder nicht sehen wollten. Estéban hatte die Ware nur den kurzen Weg bis zum Kunden bei sich, danach war er wieder clean.
Dieses Spiel wiederholten sie immer wieder und arbeiteten sich einen Häuserblock nach dem anderen Richtung Norden vor, bis selbst die hartgesottenen Partylöwen immer seltener wurden. An manchen Abenden ließ Estéban ihm ein wenig
motivosa,
wenn sie mehr dabeihatten, als sie losschlagen konnten. Heute Abend jedoch ging alles weg.
Kellys Anteil betrug fünfzehn Prozent. Ein Mitglied von La Raza hätte weniger genommen, konnte aber nicht so gut unter dem Radar fliegen wie Kelly. Und abgesehen von seinen Taschen und der Hautfarbe wurde Kelly auch für seine Zuverlässigkeit bezahlt; er zog Estéban nie über den Tisch.
Sie setzten sich in einer
taquería,
die rund um die Uhr geöffnet hatte, in eine Nische, in der niemand sie beobachten konnte. »Gute Nacht«, bemerkte Estéban. Er zählte das Geld auf dem Tisch und gab Kelly seinen Anteil. Kelly steckte die Dollars zusammen mit den restlichen Pesos ein.
»Ja«, stimmte Kelly zu. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand. Das Essen kam, sie aßen, dann ging es ihm besser.
»Kommst du morgen zum Abendessen?«, fragte Estéban.
»Klar. Warum sollte ich nicht?«
»Ich frag ja nur«, sagte Estéban. Er aß, hatte aber noch einiges auf dem Pappteller vor sich, als er aufhörte. Seine Augen sahen blutunterlaufen und übernächtigt aus. »Ich bin verdammt müde,
carnal «
, sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher