Die toten Frauen von Juárez
»Soll ich dich mitnehmen?«
»Ja, klar. Kannst du fahren?«
»Besser als jeder Busfahrer«, antwortete Estéban.
Estéban ließ der alten Frau, die die Tische abräumte, ein Trinkgeld liegen und ging mit Kelly hinaus. Die Nacht war kalt wie immer, die Lichter der Stadt überzogen den Himmel mit einer hässlichen Farbe. Jenseits des
turista -Juárez
war es ruhiger, die Schatten dunkler. Kaum jemand hielt sich auf der Straße auf, und Autos waren noch seltener.
ZEHN
Sie erwachte bei Tagesanbruch ohne Wecker, weil es Sonntagmorgen war und sie am Samstagabend immer früh schlafen ging. Das war eine Angewohnheit aus ihrer frühesten Kindheit, als ihre Mutter und Großmutter noch gelebt hatten und der Sonntag der wichtigste Tag gewesen war.
Estéban schlief vermutlich noch bis in den Nachmittag. Selbst wenn er vergangene Nacht keinen »Einkaufsbummel« gemacht hätte, würde er nicht zur Kirche gehen. Kaum war ihre Mutter gestorben, verzichtete Estéban auf die regelmäßigen Kirchgänge und überließ es Paloma, für sie beide Gebete zu sprechen. In dieser Beziehung kam er ganz nach seinem Vater und seinem Großvater, aber wenigstens blieb er da und flüchtete nicht in eine andere Stadt, in den Alkohol und schließlich ins Nichts.
Estébans einziges Zugeständnis an den Glauben war eine kleine Statue von Jesús Malverde, dem Schutzheiligen der Drogenhändler, und daneben zwei Kerzen für die Jungfrau Maria.
Ihr Haus war klein und altmodisch. Paloma hatte eine weiße Emailleschüssel mit blauem Muster im Schlafzimmer, die sie aus einem ebensolchen Krug füllte. Weiches Licht fiel durch die gelblichen Gardinen. Paloma zog das Nachthemd aus und wusch sich mit einem feuchten Tuch am ganzen Körper.
Sonntags trug sie das Zungenpiercing nicht. Sie legte den Stecker in ein Glas Wasser und gab eine Tablette dazu, die das Wasser blau färbte und sprudeln ließ, als würde sie ein Gebiss reinigen. Sie putzte sich die Zähne, benutzte Zahnseide, zog ihr bestes dunkles Kleid an und achtete darauf, dass sie anständig frisiert war. Make-up blieb den anderen Tagen vorbehalten, daher legte sie keines auf.
Sonntags trank Paloma keinen Kaffee. Als sie ihr Zimmer verließ, betete sie an dem kleinen Altar der Jungfrau von Guadalupe. Eine Nachbildung der Ikone hing mit Draht befestigt an einem Nagel in der Ecke. Eine niedrige Bank mit besticktem Kissen für die Knie diente den Frauen ihrer Familie seit Jahrzehnten am Sonntagmorgen als Stätte der Andacht. Palomabetete die glorreichen Geheimnisse mit dem schwarzen Rosenkranz ihrer Mutter.
Sonntags ging sie die zwei Meilen bis zur Kirche zu Fuß. Sie hätte das Auto nehmen können, doch in ihrer Kindheit hatte die Familie auch kein Auto besessen, und der Weg war noch weiter gewesen. Sie machte es, wie so vieles, nur deshalb so, damit sie ihre Frauen im Gedächtnis behielt.
Die Kirche war weder die größte noch die reichste in Ciudad Juárez. Ein altes Gebäude mit tiefen Fundamenten, so traditionell aus Sand- und Backstein gebaut, dass es ans Hässliche grenzte. Sie stand inmitten eines Armenviertels mit aneinandergedrängten Häusern und Mietskasernen, deren Straßen ein dichtes Geflecht von Stromkabeln überspannte. Manche Straßen waren asphaltiert, andere nicht. Unterwegs schlossen sich Paloma weitere Kirchgänger an. Die Glocken läuteten.
Sonntags traf sie sich mit einem Dutzend Frauen, allesamt älter als sie. Manche hätten ihre Mutter oder Großmutter sein können. Alle Frauen trugen Schwarz: schwarze Kleider, schwarze Hüte, schwarze Schleier. Sie sammelten sich im grellen Sonnenschein vor dem Eingang und sprachen mit niemandem ein Wort. Alter, Arbeit und Kummer hatten tiefe Furchen in ihre Gesichter gegraben. Sie lächelten nur, als Paloma eintraf und jede umarmte.
Sonntags hielt man in dieser Kirche die Messe nach altem Ritus ab. In anderen Kirchen fand der Gottesdienst für die Schäfchen auf Spanisch statt, doch hier lasen zwei steinalte Priester mit asche- und schneefarbenem Haar die Messe in Latein.
Sonntags saß Paloma bei diesen Frauen und hielt Andacht. Sie betete inbrünstig, und wenn der Zeitpunkt kam, der Toten zu gedenken, hielten die Frauen einander fest an den Händen, als könnte allein die Kraft dieser Kette von Menschen sie in der Kirchenbank halten.
Es wurde warm, die Ausdünstungen von Blumen, Weihrauch und Schweiß lagen schwer in der Luft. Im Licht der oberen Fenster konnte man sehen, wie der Weihrauch hoch ins Gewölbe der hässlichen alten
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