Die toten Frauen von Juárez
üblichen Wege lagen.
Auf diese Weise fand er die Sporthalle. Eine Schar kleiner, schlanker Mexikaner kreuzte seinen Weg beim Laufen. Kelly erkannte sie augenblicklich, so wie kämpfende Tiere ihre Artgenossen erkennen. Er schloss sich ihnen an, ohne dass ein Wort erforderlich gewesen wäre, und sie öffneten bereitwillig die Reihen und nahmen ihn auf.
Dies war ein bescheideneres Viertel von Juárez, ein gutes Stück entfernt von den hellen Lichtern und sauberen Bürgersteigen des Touristenbezirks, aber nicht so heruntergekommen und schmutzig wie die
colonias.
Boxen war ein Armeleutesport, womöglich noch mehr als
fútbol.
Kelly hatte Kinder gesehen, die auf den Straßen mit billigen Plastikbällen oder ersatzweise mit Tüten voll Laub auf den Straßen
fútbol
gespielt hatten, aber Boxen konnte man ohne Hilfsmittel, Mann gegen Mann, allein die Körperkraft zählte.
Kelly lief mit den Boxern, bis er glaubte, nicht mehr weiterzukönnen, doch er gab nicht auf. Er hielt mit ihnen Schritt, bis sie zu guter Letzt eine Sporthalle erreichten: einen soliden Kubus aus Beton mit hohen Fenstern unmittelbar neben einem Schrottplatz, auf dem sich hinter einem durchhängenden Maschendrahtzaun die rostigen Kadaver von Automobilen auftürmten wie eine Mauer.
Die meisten strömten durch eine Eingangstür, hinter der dunkle Schatten lauerten. Es war ein heller, wolkenloser Morgen. Im Inneren würde es vermutlich kühler und dunkler sein und nach Schweiß und Mief riechen. Ein Boxer wartete.
»Bueno«,
sagte er.
»Cuál es su nombre?«
Das war eine recht förmliche Anrede, aber Kelly war weiß, und manchesänderte sich eben nie. Kelly stützte die Hände auf die Knie und rang nach Luft. »
Me llaman
Kelly«, sagte er nach einer Weile.
»Jacián«, sagte der Boxer. Er war zierlich und so zäh wie ein Streifen Leder. Er erinnerte Kelly an den sturköpfigen Jungen, der Vidals Kämpfer in die Schranken verwiesen hatte, war aber älter, das Gesicht runzlig und vor seiner Zeit gealtert. »Boxt du?«
»Manchmal«, antwortete Kelly.
»Na, dann komm mit rein.«
Es wurde besser, als sie aus der Sonne gingen. Die Turnhalle war klein, aber sauber, und statt nach Muff, wie er erwartet hatte, roch es nach Motoröl. Staubige Deckenventilatoren wirbelten die Luft durcheinander.
Es gab einen Ring mit brüchigen Lederseilen und Schuhspuren auf dem Boden, drei Sandsäcke an Seilen und zwei Punchingbälle. Für Aufwärtshaken baumelte ein Sandsack von der Decke, der mit mehreren Schichten Klebeband umwickelt war. Auf dem Betonboden lagen Matten und uralte Medizinbälle, zwei Bänke zum Stemmen mit ordentlich aufeinandergestapelten Gewichten gab es auch. Männer und Jungs trainierten, manche mit Muskeln, andere mit Hirn, Lehrer und Schüler, Lehrer und Schüler, in endloser Folge.
Jacián stellte Kelly Urvano vor, einem Mann, der auf einem hohen Hocker nahe der Tür saß und teilweise von einem pultähnlichen Schreibtisch verdeckt wurde, auf dem sich dünne graue Handtücher stapelten. Urvano war alt, sein Haar teilweise schon weiß, aber er war immer noch fit. Sein Gesicht kam Kelly bekannt vor. »Ich kenne dich«, sagte er, als er Kelly die Hand schüttelte. »Ortíz hat dich zu Gonzalo Lopez gebracht.«
Kelly nickte. Er schwitzte, sein Gesicht fühlte sich schon heiß an, aber er spürte dennoch, wie seine Wangen rot anliefen. »Ja«, sagte er. »Ja, Sir.«
»Du solltest dich von Ortíz fernhalten«, sagte Urvano. »Der ist kein guter Umgang.«
Kelly nickte wieder, war sich aber nicht sicher, was er sagen sollte.
»Guter Lauf«, sagte Jacián zu Kelly und klopfte ihm auf die Schulter. »
Hasta luego.
Ich muss duschen.«
Er ging in den hinteren Teil der Halle und ließ Kelly mit Urvano allein.Der alte Mann bewegte sich nicht von seinem Hocker; er betrachtete Kelly, wie es Boxer an sich haben, als befände sich ein Vorhang zwischen ihnen. »Suchst du einen Platz zum Trainieren?«, fragte Urvano schließlich.
»Kommt drauf an. Wie viel würde es denn kosten?«
»Fünfundfünfzig Pesos die Woche für Handtücher und achtzig Pesos an jedem Monatsersten.«
»Gibt es heißes Wasser?«
»Für fünfzig Pesos die Woche? Mach dich nicht lächerlich«, sagte Urvano und lächelte fast.
»Ich denke darüber nach.«
Urvano zuckte mit den Schultern.
»Kann ich mich nächste Woche bei Ihnen melden?«
»Die Halle geht hier nicht weg.«
Kelly blieb noch. Ein paar andere Boxer kamen mit nassen Haaren aus der Dusche. »Okay«, sagte Kelly.
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