Die toten Frauen von Juárez
»Danke.«
»Du könntest ganz gut kämpfen, wenn du dir nicht dauernd das Gesicht blutig schlagen lassen würdest«, sagte Urvano zu Kelly. »Du bist noch nicht zu alt.«
Diesmal wusste Kelly nichts zu sagen. Er verließ die Turnhalle und ging wieder hinaus in die Sonne. Seine Hände zitterten ein wenig. Er stellte fest, dass er hier weder eines der Häuser noch die Straßennamen kannte.
Er war zu müde zum Laufen. Er orientierte sich am Licht, das nördlich der Grenze so konstant leuchtete wie der Polarstern. Sämtliche Punkte in Juárez wurden in Beziehung zu Texas gesetzt, obwohl das Land nicht weniger flach, nicht weniger trocken, nicht weniger heiß war.
Ein verbeulter alter Lastwagen voll Jungs im Teenageralter fuhr vorbei. Kelly spürte Raubtierblicke auf sich, während der Wagen langsamer wurde. Er sah ihnen nicht in die Gesichter, wandte sich aber auch nicht ab, genauso wenig wie er es bei einem Rudel wilder Hunde getan hätte.
Der Lastwagen holperte noch einmal fünf, sechs Meter weiter, dann gab der Fahrer wieder Gas. Einer der Jungs, die auf der Ladefläche saßen, warf eine leere Flasche in Kellys Richtung. Sie zerschellte im Krater eines Schlaglochs.
»Maricón!«,
brüllte der Junge, und alle anderen lachten.
FÜNFZEHN
Kelly bezahlte seine Miete regelmäßig und pünktlich, was sich manche nicht einmal mit einer geregelten Arbeit leisten konnten. Die Betreiber der
maquiladoras
behaupteten, dass sie mehr bezahlten, als der durchschnittliche Arbeiter je außerhalb der Firma verdienen könnte, und das stimmte, doch dieser Vorteil war passé, als der Wohnraum knapp wurde und die Preise für Lebensmittel und Miete stiegen.
Dem Vermieter schien es gleich zu sein, woher das Geld kam, solange es kam, daher machte er Kelly keine Schwierigkeiten, als der den schweren Sandsack auf dem Balkon befestigte. Und er erhob auch keine Einwände, als Kelly auf dem Schrottplatz ein Metallrohr kaufte, es mit Nägeln und Schrauben auf dem Balkon anbrachte und als Reckstange verwendete.
Heute waren es fast achtunddreißig Grad, die Luft war knochentrocken. Kelly schwitzte, als er das Metallrohr befestigte, doch der Schweiß verdampfte fast so schnell, wie er floss.
Er hörte weder Paloma an der Eingangstür noch den Schlüssel im Schloss. Als er ihren Schatten im Fenster sah, stieg er von der Milchkiste herunter, die er als Podest benutzte. »He«, sagte er. »Sieh dir das an.«
Sie kam auf den Balkon, sah hübsch und braungebrannt aus und roch nach etwas Lieblichem. Kelly hielt sich an dem Rohr fest und machte einen halben Klimmzug, um etwas anzugeben. Das Rohr blieb fest verankert.
»Ich dachte, du gehst in diese Sporthalle«, sagte Paloma.
»Klar, aber ich möchte zusätzlich zu Hause trainieren können.« Kelly wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab. Seine Haut fühlte sich heiß an. »Hast du Durst? Ich hab Gatorade im Kühlschrank.«
Die Gatorade mit Zitronengeschmack servierte Kelly in Plastikbechern. Sein Kühlschrank war sauber, die Schränke in der Kochnische blitzblank.
Sie setzten sich auf die Couch. Paloma sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
»Gut. Das liegt am Training.«
»Wann boxt du?«
»Ich weiß nicht. Da muss ich mit Ortíz reden.«
Pamela runzelte die Stirn. »Warum mit Ortíz?«
Kelly sah über die Schulter zum Balkon. Er konnte das Rohr gerade noch sehen. Sein Gewicht trug es, er musste nur noch hinausgehen und es benutzen. »Urvano hat nicht den Mumm, mich für genehmigte Kämpfe zu buchen.«
»Und Ortíz schon?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Du solltest dich von ihm fernhalten, Kelly.«
»Fang nicht wieder damit an.«
»Du weißt nicht so viel über ihn, wie ich.«
»Dann sag es mir.«
Paloma schüttelte den Kopf. »Falscher Zeitpunkt. Bleib … einfach bei Urvano. Er ist ein guter Mann. Anders als Ortíz. Und außerdem dürfte Ortíz nicht mehr lange da sein.«
»Wieso das?«
»Wenn die Leute herausfinden, was er treibt, muss er fort.«
»Wie sollen die Leute das herausfinden? Sagst du es ihnen?«
»Vielleicht.«
Kelly rieb sich die Augen und verdrängte aufkommende Kopfschmerzen. »Du redest wirres Zeug. Ich habe mir überlegt, dass ich unter einem anderen Namen kämpfen könnte. Ortíz hat Einfluss bei den richtigen Leuten; er kann sie dazu bringen, dass sie mich buchen, ohne groß Fragen zu stellen.«
»Glaub mir, Kelly, Ortíz kennt nur die falschen Leute.«
»Hörst du jetzt damit auf? Ich muss
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