Die toten Frauen von Juárez
Arbeit und Trauer würden sie zu einem Artefakt wie die anderen machen, einem Mahnmal für Verlust und Schmerz.
Señora Muñoz’ Tochter putzte und saugte die Fußböden in den Büros einer
maquiladora
mit Namen Electrocomponentes de Mexico. Die Familie Muñoz lebte in einem Haus aus Schlackesteinen ohne Wasser oder Strom. Belita Muñoz Castillo war dreizehn Jahre alt, gab sich für älter aus und fuhr um drei Uhr morgens allein mit dem Firmenbus zur Arbeit.
Paloma sprach mit den neuen Frauen in Schwarz gern über andere Angelegenheiten, doch die erste Frage lautete stets:
Hast du etwas gehört?
»Wir haben neue Flugblätter mit Belitas Bild«, sagte Paloma zu Señora Muñoz. »Wir hängen sie überall in der Stadt auf. Überall in der
maquiladora.
«
Señora Muñoz nickte. »Danke«, sagte sie.
»Jemand erkennt sie bestimmt.«
Anfangs hatte Paloma stets mehr gesagt, ließ sich jedoch eines Besseren belehren und hielt sich inzwischen an das Prinzip der Einfachheit. Sie konnte nicht sagen, ob man Belita finden würde, tot oder lebendig. Manchmal kam es vor, dass Leute tatsächlich einfach verschwanden. Manchmal fanden Mädchen einen Freund, setzten sich über die Grenze ab, und wenn
la migra
sie nicht aufspürte, kehrten sie möglicherweise nie zurück. Manchmal bekamen die Mädchen Arbeit in den Bordellen, wo mehr Geld floss, die Schande jedoch zu groß war.
Señora Muñoz kniff den Mund so sehr zusammen, dass ihr das Reden Schmerzen zu bereiten schien. »Haben Sie jemanden verloren?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Paloma.
»Gott segne Sie dennoch«, antwortete Señora Muñoz.
Sie gingen schweigend weiter, nur die anderen Frauen in Schwarz unterhielten sich. Die gemeinsamen Zusammenkünfte brachten die Toten oder Vermissten nicht zurück, doch manchmal war ein klein wenig Freundschaft besser als Tage und Nächte allein, ohne Ausweg.
»Mein Mann«, sagte Señora Muñoz, »starb, als Belita erst sechs war. Manuel, mein Ältester, sagte, wir sollen Arbeit in der Stadt suchen. Er war der Mann in der Familie.«
»Wo ist er jetzt?«, fragte Paloma.
»Tot«, antwortete Señora Muñoz ohne weitere Erklärung.
»Jemand erkennt Belita«, sagte Paloma.
»Sie ist auch tot«, erwiderte Señora Muñoz.
Die anderen Frauen in Schwarz horchten auf.
Nein, nein, nein,
sagten sie.
Sie ist irgendwo da draußen. Geben Sie die Hoffnung nicht auf.
Paloma ließ sie Señora Muñoz auf die einzige Art und Weise bemuttern, die sie kannten.
Die Furchen in Señora Muñoz’ Gesicht wurden immer tiefer. Sie schüttelte heftig den Kopf. Sie blieben auf der Straße stehen, vor der windschiefen Fassade eines leerstehenden Hauses, dessen Rückgrat, der Dachfirst, gebrochen war, das Dach eingestürzt. Unkraut wuchs aus den rissigen Fundamenten. »Ich habe geträumt, dass sie tot ist«, erklärte Señora Muñoz. »Die haben sie aus dem Bus entführt … die haben ihr Gewalt angetan und sie erwürgt. Sie konnte nicht einmal nach ihrer Mama rufen!«
Die Frauen in Schwarz scharten sich um Señora Muñoz. Sie schob sie zurück. Paloma stand hilflos ein Stück abseits.
Nein, nein, nein. Sagen Sie das niemals.
»Sie haben
mi hija
vergewaltigt! Sie sind Tiere! Schlächter!«
Señora Muñoz riss an ihrer Kleidung, die Frauen in Schwarz hielten ihre Arme fest. Paloma spürte etwas auf den Wangen. Sie berührte ihr Gesicht und zog die Finger feucht wieder weg. Sie zitterte am ganzen Körper.
»
Warum hat mir Gott meine Kinder genommen?
Ich gehe zur Beichte! Ich lege Geld in den Opferstock! Wo ist der Leichnam meiner Belita?
Was haben die mit ihrem Leichnam gemacht!?!
«
Tränen der Hysterie rannen über Señora Muñoz’ Gesicht. Sie brach inmitten der Frauen zusammen, versank in einem Meer aus runzligen Gesichtern und schwarzem Stoff. Aus ihren Worten wurde ein Heulen, aus dem Heulen abgehackte, erstickte Laute der Seelenqual. Paloma fühlte, wie ihre Knie weich wurden, sie musste sich an der Steinfassade des baufälligen Hauses abstützen.
»Lasst ihr etwas Luft«, bat Señora Guzman. »Sonst wird sie noch ohnmächtig.«
Die Frauen wichen zurück. Señora Muñoz lag zusammengekrümmt auf der Straße, weißer Staub beschmutzte ihr Sonntagskleid. Señora Guzman war die Älteste. Sie hielt Señora Muñoz wie die Pietà. Statt Blut flossen Tränen; alle Frauen in Schwarz weinten.
»Was hast du zu ihr gesagt?«, wandte sich Señora Guzman an Paloma.
Paloma schüttelte benommen den Kopf.
»Es liegt nicht an ihr«, sagte Señora Delgado.
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