Die toten Frauen von Juárez
leichter kämpfen.
Der Gong ertönte, die Kontrahenten näherten sich einander. Vidals Junge hatte für seine Größe lange Arme und damit einen Reichweitenvorteil von vielleicht fünf Zentimetern. Er schlug immer wieder blitzschnell zu und stand niemals still; er kreiste immerzu, und auch wenn der andere Junge abwehrte, forderten die leichten Treffer mit der Zeit ihren Tribut.
So lief es die ersten beiden Runden, doch dann hatte sein Gegner den Dreh raus und erkämpfte sich einen Vorteil. Vidals Junge verließ sich zu sehr auf seine Deckung; wenn der andere sie durchbrach, tänzelte er sofort zurück, als wäre er getroffen, noch bevor der Schlag sein Ziel fand.
Kelly aß zwischen den Runden die
tamales
und trank das Jarritos. Die Mexikaner um ihn herum waren aufgeregt, genau wie er auch. Er hatte die Gerüche außerhalb des Rings, die Geräusche und Bewegungen der Kämpfe fast vergessen, so lange schon hatte er nicht mehr selbst die Handschuhe getragen. Der Mann neben Kelly stieß ihn an, sie lächelten einander zu.
Die dritte Runde war hart für Vidals Jungen; manche Boxer verbissen sich in einen aussichtslosen Kampf, wenn ihr Selbstbewusstsein erschüttert wurde; alles schrumpfte zu einem verzweifelten Korridor von Versuchen und neuerlichen Versuchen zusammen. Er probierte es weiter mit seinen schnellen Hieben, obwohl die Taktik eindeutig nicht mehr funktionierte. Das Fliegengewicht schlug nicht mit der Wucht eines Schwergewichts zu, aber seine soliden Treffer machten Vidals Kämpfer schwer zu schaffen. Kelly sah, wie der alte Mann den Kopf schüttelte.
Der Junge schleppte sich mit einem deutlich sichtbaren Bluterguss an der Seite in die Ringecke. Kelly sah, wie Vidal ihm mit einer Hand den Mundschutz abspülte und mit der anderen eine kalte Kompresse auf die Rippen drückte. Er redete leise und ruhig auf ihn ein. Kelly hatte Vidal noch nie so viel reden sehen. Der Junge nickte.
Die vierte Runde war die letzte. Die Kontrahenten traten auf ein Zeichen des Ringrichters vor. Vidals Junge kreiste, wollte wieder seine schnellen Hiebe einsetzen, zögerte jedoch. Kelly konzentrierte sich auf sein Gesicht, sah den inneren Kampf, dem Rat des Trainers zu folgen, eine aussichtslose Strategie aufzugeben und etwas zu verändern, oder weiterzumachen wie bisher.
Der andere Junge landete weitere Treffer. Vidals Junge wich zurück, aber diesmal kontrolliert. Er steckte immer noch Schläge ein, teilte aber auch kräftig aus und befreite sich wieder aus der Ecke.
Sein Ziel waren Kombinationen; er versuchte, zwei oder drei Treffer nacheinander anzubringen, die den anderen Boxer verwirren und von seinen geprellten Rippen fernhalten sollten. Vidals Junge war an den Vorteil seiner Arme gewöhnt, mit denen er den anderen Burschen aus der Distanz mit einem Hagel von Hieben eindecken konnte. Der andere Junge war dickköpfig und wusste, wie er die heftigen Körpertreffer ansetzen musste, die er bevorzugte.
Die Uhr tickte. Jeder Hieb brachte den letzten Gongschlag eine halbe Sekunde näher. Vidals Junge versuchte es mit ein wenig Technik, um Punkte bei den Ringrichtern gutzumachen, doch er besaß nicht die Erfahrung im Ring, den anderen Jungen von sich fernzuhalten.
Gong und Ringrichter waren im Einklang. Ersterer ertönte, Letzterer ging dazwischen. Beide Kämpfer ließen die Fäuste sinken. Sie waren schweißnass, genau wie Kelly. Er stand auf, klatschte und johlte wie alle anderen auch. Die Assistenten kletterten zwischen den Seilen hindurch, bis im Ring wie nach jedem Kampf ein regelrechtes Gedränge herrschte.
Der andere Junge entschied den Kampf mit drei Runden zu einer für sich. Die Kämpfer umarmten einander. Fotos wurden geschossen. Als Kelly sich wieder setzte, lächelte er. Das war die Magie des Boxkampfes:So verschwindend gering das Preisgeld auch sein mochte, letztendlich zählte der Kampf so viel wie jeder andere auch, ganz gleich, um welche Summen es ging.
»Ich hatte es vergessen«, sagte Kelly laut.
»Que?«,
fragte der Mann neben ihm.
»Nichts«, sagte Kelly zu ihm. »Guter Kampf.«
Der Mann nickte.
»Sí, era una buena lucha.«
VIERZEHN
Jeden Tag ging er weniger und lief mehr. Er hatte das Rauchen ganz aufgegeben und trank nicht einmal mehr Bier, außer an Abenden, an denen er und Estéban Geschäfte machten. Da es langweilig wurde, Tag für Tag denselben Weg entlang der Hauptstraßen zu laufen und die verpestete Luft einzuatmen, wandte er sich Nebenstraßen und Vierteln zu, die weit abseits seiner
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