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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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Wette.«
    »Sie essen heute mit ihr und Estéban?«
    Kelly drehte sich zu Sevilla um. Das Gesicht des Polizisten sah unverändert aus, markant und traurig, mit einem Ausdruck eiserner Entschlossenheit in den Augen. Sein Körper wirkte entspannt, doch Kelly wusste, dass Sevilla nie lockerließ. »Ja«, antwortete Kelly. »Ich esse sonntags immer bei ihnen. Und ich weiß, dass Sie das wissen.«
    »Dann tun Sie mir einen Gefallen, Kelly: Stellen Sie Estéban nur eine Frage. Wenn er antwortet, sagen Sie mir die Antwort. Wenn wir wissen, woher er sein Heroin bekommt, lassen wir Sie in Ruhe. Es ist, als würden wir das Blut eines Lamms auf Ihre Tür streichen; wir kommen in der Nacht vorbei, und Sie bleiben fortan unbehelligt.«
    »Was ist mit Estéban?«
    »Wenn er den
turistas
Gras verkaufen will, ist das seine Sache und geht mich nichts an. Wie Sie schon sagten, ich bin Bundespolizist. Wenn die hiesigen Polizisten wegschauen wollen, können sie das.« Sevilla machte eine Pause. »Und?«
    »Wenn ich etwas darüber höre, sage ich es Ihnen«, antwortete Kelly schließlich.
    »Das ist keine Übereinkunft.«
    »Aber mehr bekommen Sie nicht.«
    Sevilla nickte knapp. Er erhob sich von der Couch, und erst jetzt wagte sich Kelly aus der Kochnische in das größere Zimmer. Sie standen nebeneinander vor der Tür. Sevilla öffnete sie. »Ich wusste, es würde sich noch auszahlen, dass ich Sie nicht der Polizei in den Staaten übergeben habe«, sagte er. »Manche Leute glauben, dass Boxer dumm sind, weil sie ständig Schläge auf den Kopf bekommen und sich nicht beschweren, aber wir wissen es besser.«
    »Ich rufe Sie an«, sagte Kelly.
    »Aber gewiss doch.« Kelly wusste, ihnen war beiden klar, dass es sich um eine Lüge handelte; Kelly würde nie anrufen, Sevilla ihn nicht abschieben lassen. Das gehörte zu einem Spiel, das nur Sevilla völlig zu begreifen schien. Kelly wollte, dass er ging.
    Als Sevilla fort war, lief Kelly in dem Apartment auf und ab. Er wartete zwanzig Minuten, bis er ein Sweatshirt und Laufschuhe anzog. Er wollte seine Aufregung ausschwitzen.
    Er schloss die Tür ab und war erst halb die Stufen zur Straße hinunter, als er Sevilla entdeckte. Der Polizist stand vor dem rosa Telefonmast, wandte Kelly den Rücken zu und studierte die Flugblätter. Vor Kellys Augen strich er mit den Händen über die Zettel, als wollte er sie mit den Fingerspitzenlesen. Das machte er zweimal, bis er schließlich weiterging. Er überquerte die Straße, stieg in einen unauffälligen blauen Mittelklassewagen und fuhr davon.

ZWÖLF
    Estéban und Paloma lebten in einem kleinen Haus, das einmal ihren Eltern gehört hatte. Kelly fand, dass es alt, aber gemütlich war und nach Alter und vielen frisch gekochten Mahlzeiten roch. Er sah sich mit Estéban in dem kleinen Fernseher
fútbol
an, während Paloma das Essen zubereitete. Als es fertig war, versammelten sie sich um den bescheidenen Esstisch. Paloma sprach ein Gebet, dann aßen sie.
    Sonntags kreisten ihre Gespräche um andere Themen. Paloma duldete Estébans Geschäfte nicht im Haus, schon gar nicht bei Tisch. Stattdessen redeten sie über Sport und
turistas,
Lokalnachrichten und sogar über das Wetter. Paloma und Estéban sprachen über ihre weit verzweigte Familie, die Kelly nie kennengelernt hatte, aber von der schon bei vielen früheren Sonntagsgesprächen die Rede war.
    Palomas Mahlzeiten waren nie ausgeklügelt, aber stets scharf und sättigend. Sie aßen Eintopf mit grünen Chilis und handgepresste Tortillas, schwarze Bohnen, Reis und Eier. Als sie sich sattgegessen hatten, ging Estéban auf die Veranda, eine Tüte drehen. Normalerweise wäre Kelly mit ihm gegangen, aber heute half er Paloma, das Geschirr zu spülen.
    »Willst du dich nicht zudröhnen?«, fragte ihn Paloma.
    »Heute nicht«, antwortete Kelly.
    Sie sammelten die Teller ein und kratzten die Reste in einen Plastikeimer. Später würde Paloma den Eimer nach draußen bringen, damit sich drei Hunde aus der Gegend an den Abfällen gütlich tun konnten.
    »Du siehst heute hübsch aus«, sagte Kelly nach einer Weile. Das entsprach der Wahrheit; an Sonntagen wirkte Paloma stets irgendwie reizender, auch wenn sie sich für die Arbeit in der Küche umzog.
    Die Küche war klein, und Paloma kannte sie in- und auswendig. Sie arbeitete mit einem Minimum an Anstrengung. »Du siehst auch gut aus«, versicherte sie Kelly. »Wie geht es deiner Nase?«
    »Besser. Und ich bin gelaufen. Hab ein bisschen trainiert. Ich denke, ich

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