Die toten Frauen von Juárez
»Paloma ist ein guter Mensch.«
Señora Muñoz sah trotz ihres tränenfeuchten Gesichts aus, als schliefe sie, doch ihr Körper zuckte noch krampfhaft, als würde er von innen heraus geschüttelt werden. Paloma weinte um sie.
»Psst«, sagte Señora Guzman zu Señora Muñoz. Sie strich der Frau über die Stirn, doch die Furchen verschwanden nicht. »Wir können dich nicht tragen; du musst alleine gehen. Still jetzt.«
Die Frauen in Schwarz zogen Señora Muñoz Stück für Stück auf die Füße. Sie schwankte, als sie stand, doch die anderen halfen ihr. Paloma wagte sich näher und legte Señora Muñoz eine Hand auf den Arm. Die Frau wandte sich nicht ab.
»Jede Frau muss für sich gehen«, sagte Señora Guzman.
Sie gingen weiter. Paloma drehte sich noch einmal um. Den schwarzen Lieferwagen sah sie immer noch nicht.
SIEBZEHN
Kelly machte Dehnübungen und sprang Seil, bis ihm die Knöchel brannten, und übte anschließend Schattenboxen in der Ecke von Urvanos Turnhalle. Es waren noch andere Boxer da – einige kannte Kelly inzwischen beim Namen, andere würdigten ihn, den Gringo, keines Wortes –, die miteinander trainierten, Medizinbälle warfen oder auf Sandsäcke einschlugen. Urvano saß die meiste Zeit auf seinem Hocker; hin und wieder stieg er jedoch herab und gab diesem oder jenem Kämpfer einen Ratschlag, wenn ihm etwas aufgefallen war.
Manager und Trainer ließen sich zu den unmöglichsten Zeiten in der Turnhalle blicken. Manche blieben stehen und beobachteten Kelly, der sich größte Mühe gab, nicht an sie zu denken. Er war keine Investition mehr wert, kein Aufsteiger; er war zu alt, zu langsam und einfach zu verdammt
weiß,
um irgendwo südlich der Grenze Aufsehen zu erregen. Dennoch machte ihn allein die Tatsache, dass man ihn beobachtete, zehn Jahre jünger, als wäre er wieder in der Sporthalle in der Zarzamora Street von San Antonio, auch damals war er ein weißer Knabe unter braunhäutigen Jungs, aber einer mit schnellen Fäusten und flinken Füßen.
Urvano besaß nur einen an den Rändern gesprungenen und altersblinden Wandspiegel. Kelly verlegte sein Training auf eine mit Klebeband reparierte Matte vor diesem Stück versilberten Glases und studierte seine Bewegungen. Dabei setzte er nicht auf Tempo oder Wucht; stattdessen praktizierte er sein Schattenboxen wie ein alter Chinese beim Tai Chi und führte jeden Schlag, jeden Schritt ganz bewusst aus.
Im Lauf von fünf Jahren hatte er sich, allen regelmäßigen Auftritten im Ring zum Trotz, gehenlassen und war nicht mehr in Form. Er musste nicht über den perfekten Haken oder richtigen Ausfallschritt nachdenken, da er nur teilnahm, um Prügel einzustecken. Wenn er sich langsam bewegte, sah er jeden nachlässigen Fehler überdeutlich im Spiegel. Derartige Kontrolle kostete Energie; Kellys Hemd wurde schweißnass.
Er bemerkte weder, dass jemand hinter ihn trat, noch das plötzlicheSchweigen. Die Trainer feuerten ihre Schützlinge nicht mehr an, in der ganzen Halle herrschte Stille, abgesehen von der blechernen Musik aus dem Radio.
»He, Kelly«, sagte Ortíz.
»Cómo te va?«
Selbst in den dünnen Bandagen fühlten sich Kellys Hände schwer an. Seine Schultern schmerzten. Ortíz trug legere Kleidung, ein Jackett und weite Hosen, sah aber dennoch elegant aus. In der Turnhalle, wo selbst Promoter, die hin und wieder vorbeischauten, wie Straßenarbeiter gekleidet waren, wirkte er fehl am Platz. Hier regierten alte Männer wie Urvano: einfach, hingebungsvoll und arm. Ortíz trug eine goldene Armbanduhr.
Er kam zu ihm und täuschte einen Schlag auf seinen Oberkörper an. »Du siehst gut aus, Kelly. Hast etwas abgenommen. Wiegst um die achtzig Kilo, hm?«
Kelly nickte. Er stellte fest, dass Urvano Ortíz beobachtete. »Weniger«, sagte er.
»Das ist gut. Echt gut. Schön, dass du so hart arbeitest.«
»Ja, na ja, ich …«
»Hör zu, Kelly, ich habe gehört, dass du nach mir suchst. Ich habe einen dringenden Termin, aber wenn du einen Moment Zeit hast …?«
»Jetzt?«
Ortíz klopfte auf die goldene Uhr.
»Ahora.«
In der Halle wandten sich einige Boxer wieder ihrem Training zu. Die Trainer wandten sich von Ortíz ab. Kelly wusste, dass sie auch ihn ausblendeten.
»Na gut«, sagte Kelly. »Geben Sie mir einen Moment, um mich abzutrocknen.«
»Aber nicht zu lange.«
Kelly duschte mit Wasser, das trotz des heißen Tages kalt war, zog ein frisches Sweatshirt an und folgte Ortíz nach draußen. Er ging ohne ein Wort an Urvano vorbei.
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