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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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sah eine Gruppe Schulmädchen von einem Bordstein zum anderen huschen. Eine Frau, möglicherweise die Lehrerin, folgte ihnen. Manche hielten Brotdosen in den Händen, was Sevilla hungrig machte. Es wäre besser, etwas zu essen, als sich auf dem Fahrersitz seines Autos besinnungslos zu trinken.
    Er fuhr noch eine Weile herum und folgte dabei einer Route, die ihm aus der Zeit mit Kelly und von früher noch halb vertraut war. Ganz am Anfang, als er Kelly noch nicht so gut gekannt hatte, war Sevilla ihm ab und an zu Fuß gefolgt und hatte ihn observiert, aber niemals aus unmittelbarer Nähe. Kelly hatte einen abenteuerlustigen Charakter und besuchte häufig Viertel, die die anderen Amerikaner mieden. Zuerst hatte es natürlich daran gelegen, dass er sich selbst in den Klauen der Sucht befunden hatte, aber irgendwann dann, weil ihm die Stadt und ihre Bewohner gefielen. Sevilla dachte, dass aus Kelly unter anderen Umständen vielleicht ein guter Polizist geworden wäre.
    Sevilla erkannte allmählich immer mehr Läden und Fassaden. Er erinnerte sich an ein Restaurant, wo es ansehnliche Portionen zu bescheidenen Preisen gab, ein Arbeiterlokal, und fuhr dorthin, ohne dass er den Straßenschildern Beachtung schenken musste. Unbewusst legte er die Hand auf den Beifahrersitz und rechnete fast damit, menschliche Wärme zu spüren, aber es war niemand bei ihm. Dies war nicht mehr
ihre
Route, sondern
seine.
    Im Schatten einer verblassten orangefarbenen Markise aß er Huhn mit Reis und Tortillas. Leute schlenderten so dicht an seinem Tisch vorbei, dass er sie hätte berühren können, und von den Plätzen ringsum erklangen Unterhaltungen. Von Zeit zu Zeit schenkte Sevilla den Büros auf der anderen Straßenseite seine Aufmerksamkeit: der kleinen Zahnarztpraxis und der offenen Tür im ersten Stock.
    Inzwischen dürfte Enrique wieder im Polizeirevier sein. Bis er Kellys Notizbuch gefunden hätte, würde ganz bestimmt eine Stunde vergehen,selbst wenn alles andere glatt lief. Wahrscheinlich würden sie sich erst heute Abend wiedersehen, und selbst dann mussten sie vorsichtig sein, damit nicht die falschen Leute mitbekamen, was sie trieben. So vorsichtig wie Sevilla, als er zu Ende gegessen hatte und über die Straße ging.
    Er ließ auf dem Tisch Kleingeld für die junge Frau liegen, die das Geschirr abräumte, wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab und trat wieder in den Sonnenschein hinaus. Sevilla schmolz in seinem Anzug. Stets verspürte er den Wunsch, etwas Leichteres, Luftigeres anzuziehen, doch der Anzug war ihm wichtig. Er war Sevillas Rüstung. Und ein Schild, genau wie seine Marke und der Dienstausweis. Wenn die Leute einen Mann im Anzug sahen, reagierten sie anders, verhielten sich anders und erzählten manchmal allein ihres Unbehagens wegen mehr, als sie erzählen wollten. Sevilla trug den Anzug selbst dann, wenn die Temperaturen die Vierzig-Grad-Marke überschritten, weil er seine Arbeit nach all den Jahren nicht mehr ohne ihn machen konnte.
    Sevilla überquerte die Straße und erklomm die Stufen. Die Sonne fühlte sich wie eine Last auf seinen Schultern an. Ein vertrauter Geruch beschwor unerwünschte Erinnerungen herauf. Er verdrängte sie, und als er vor der Tür von Mujeres Sin Voces stand, hatte er sich wieder ganz im Griff.
    Aus dem Inneren ertönten unbeholfene Tippgeräusche. Sevilla klopfte an den Türrahmen und sah hinein. Eine leichte Brise folgte ihm durch die Tür und spielte mit den Flugblättern an der Wand. Die Frau am Schreibtisch hielt in ihrer Arbeit inne. Einen Moment sah Sevilla das Gesicht von Paloma Salazar. Hier waren sie einander zum ersten Mal begegnet.
    »Polizei«, sagte Sevilla und zeigte der Frau seine Marke. »Sevilla. Wie heißen Sie?«
    »Adela de la Garza«, antwortete die Frau. »Entschuldigen Sie … ist etwas passiert?«
    »Es passiert immer etwas«, sagte Sevilla und machte eine Geste, die vage die Wand mit den Flugblättern, alle Gesichter, alle Rufe nach
justicia
umfasste. »Ich bin wegen Paloma hier.«
    Adela bekreuzigte sich und legte die Hände in den Schoß. Sie nickte. »Wir haben die Nachrichten gehört.«
    »Es gab keine anständigere Frau als sie«, sagte Sevilla.
    »Sind Sie der Ermittler? Der Zuständige?«
    »Nein. Die städtische Polizei bearbeitet Palomas Fall. Aber ich bin als Berater dabei.«
    »Sie sagen, es war ihr Freund, dieser Amerikaner. Er war manchmal hier, wissen Sie.«
    Sevilla nahm einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche und klappte ihn auf. Er

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