Die toten Frauen von Juárez
die
colonias
nicht: die Enge, den Gestank, die argwöhnischen Gesichter. Als uniformierter Polizist kannte er Beamte, die erstochen oder zusammengeschlagen worden waren, als sie in den
colonias
Streife gingen oder Zeugenaussagen einholten. Nicht alle waren so, aber zumindest ähnlich, und daher hielt Sevilla sich fern.
Er fuhr ein neutrales Auto und zeigte seine Marke nicht, dennoch erkannten die Bewohner der
colonia
den Polizisten in Sevilla. Die Nachricht von seiner Ankunft würde sich innerhalb weniger Minuten von einem Ende der
colonia
bis zum anderen verbreiten. Niemand würde sich mehr auf den engen, verwinkelten Gassen aufhalten, keine Kinder dort spielen, wo er auftauchte.
Er wusste, ohne einen Blick hineinzuwerfen, dass Ella Arellano nicht zu Hause war. Die raue, unfertige Tür stand offen, nichts regte sich in den Schatten im Inneren. Eine Spinne hatte schon ihr seidenes Netz zwischen Türknauf und Rahmen gesponnen.
Sevilla trat ein. Außer dem gestampften, gefegten Boden war nichts mehr da. An einigen verstreuten Nägeln hingen noch Fetzen von Bildern, die man abgerissen hatte. Abdrücke von Tischbeinen zierten den Boden, doch die Zeit würde auch sie auffüllen und einebnen, bis nichts mehr auf ihre Existenz hindeutete.
»Mierda!«
Es wäre sinnlos gewesen, lange zu bleiben. Er fand weder verborgene Nachrichten noch einen Hinweis darauf, wohin die Flucht geführt oder wann sie stattgefunden hatte. Sevilla leckte sich die trockenen Lippen und trank Wasser.
Das Mädchen wartete draußen, halb im Schatten der Hausdächer. Sie mochte ungefähr fünf sein, war aber klein für ihr Alter. Ihr bedrucktes Kleid hatte das fadenscheinige Aussehen lange getragener Sachen. Auf einer Wange prangte ein Schmutzfleck, auf der anderen ein Schönheitsmal. Eines Tages würde sie bezaubernd aussehen.
Sevilla sah das Mädchen wortlos an. Sie floh nicht durch das Labyrinth der
colonia.
Ihre Augen wirkten alt.
»Hola«,
sagte Sevilla schließlich.
Das Mädchen hob die Hand.
»Hast du die Frau gekannt, die hier wohnte? Señorita Arellano?«
Das Mädchen hob einen Fuß, und Sevilla dachte schon, sie würde doch abhauen, aber sie blieb. Sie nickte.
»Weißt du, wann sie fort ist?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Adiós, Señor«,
sagte sie mit einer Stimme, so hell wie Weihnachtsglocken. Sie drehte sich um und verschwand ohne einen Fußabdruck zu hinterlassen, dem er folgen könnte. Sevilla atmete aus, als hätte er gerade ein Reh in den Wald fliehen sehen.
ZEHN
An diesem Abend trank er nicht. Er bereitete sich Schweinefleisch zum Abendessen zu und aß die Mahlzeit am Küchentisch. Das Essen spülte er nur mit Wasser und Zitrone hinunter.
Er war weder für Fernsehen noch für Lesen oder Musik in Stimmung, daher saß er allein in Anas Zimmer und hielt stumm das Foto aus dem Parque Central in Händen, während ihm Tränen über die Wangen liefen. Trinken hätte die langen Stunden erträglicher gemacht, wenigstens kürzer, und er hätte sich in der Gewissheit besinnungslos trinken können, dass er es morgen und übermorgen und überübermorgen genauso machen konnte, bis es kein Morgen mehr gab, dem er aus dem Weg gehen musste.
»Wo seid ihr?«, fragte er Ana und Ofelia. Seine Frau hatte einmal gesagt, dass Gott diese Frage beantworten würde, wenn sie sie nur oft genug stellten, aber selbst ihr war sie irgendwann überdrüssig geworden. Nur Ella und Paloma und die Frauen von Mujeres Sin Voces blieben stets standhaft.
Justicia para Ana. Justicia para Ofelia. Wo seid ihr? Wo seid ihr?
Zum ersten Mal seit langer Zeit legte sich Sevilla in das Bett seiner Tochter. Er drückte die Fotografie an sich, weil er sie nicht ansehen musste, um jede Farbe und jede Linie zu kennen. Er hörte seine Frau ein Schlaflied summen, dann wurde ihm klar, dass er selbst die Melodie angestimmt hatte.
Mira la luna
Comiendo su tuna;
Echando las cáscaras
En la laguna.
So schlief er ein.
ELF
Sevilla rief jeden Morgen im Krankenhaus an und erkundigte sich nach Kelly. Die Schwestern sagten ihm jedes Mal dasselbe. Kelly schlief und wachte nicht auf. Sein Herz schlug noch. Er war nicht bereit zu sterben.
Er vermied es, sich länger als ein paar Minuten im Büro aufzuhalten. Die Sicherheitsmaßnahmen der staatlichen Institutionen waren strenger als die der städtischen; das Gefühl, in einer bewaffneten Festung gefangen zu sein, wäre unerträglich für ihn gewesen. Er erledigte seine Arbeit per Telefon und versprach schriftliche
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