Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
es immer schnell gehen, im Guten wie im Schlechten. Dieses Mal haben sie beschlossen, langsam zu sein, sich Zeit zu lassen und sich den Raum zu geben, den sie brauchen. Es gibt Mauern einzureißen und neue zu errichten, einen Stein nach dem anderen.
Der unvermeidliche Bronzeengel zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das Metall unter der grünlichen Patina glänzt in der ersten Sommersonne. Auf dem Sockel ist ein Name hinzugekommen.
VALERIO FERRI, GESTORBEN 6. JANUAR 1995
Roberto seufzt. »Er hätte es so gewollt. Hier begraben zu sein, bei seinen Eltern. Ich weiß nur immer noch nicht, was ich ihm gegenüber empfinden soll.«
»Er hat dir das Leben gerettet«, sagt sie, wie sie es schon so oft gesagt hat. »Ich habe es gesehen.«
Auf dem Höhepunkt des Konflikts, der ihn zerriss, hatte das, was vom Kollegen und Freund noch übrig geblieben war, es geschafft, die Oberhand zu erringen. Er hatte die Pistole auf sich selbst gerichtet, den Lauf auf den Adler über dem Hakenkreuz gesetzt und sich ins Herz geschossen. In dem Augenblick, in dem der Schuss losgegangen war, war Roberto erschöpft zusammengebrochen. Sie waren im selben Moment zusammengebrochen.
Er schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht an ihn denken, ohne an das Ungeheuer zu denken, das in ihm war. Und das ihn fünf Menschen hat ermorden lassen.«
»Ein echtes, reales Ungeheuer, soundso groß und soundso schwer. Aber es war nicht seine Schuld. Zumindest nicht nur.«
Die Autopsie hatte in Valerios Hirn einen aprikosengroßen Tumor nachgewiesen. Bösartig, inoperabel, er hätte innerhalb weniger Monate den sicheren Tod herbeigeführt. Auch wenn es kaum dokumentierte Fälle für Veränderungen der Augen und der Stimme in Verbindung mit diesem Typ von Krankheit gab, war Alice zu dem Schluss gekommen, dass der Druck der tumorösen Masse auf einige Zonen des Gehirns die Ursache dafür gewesen sein musste. Er konnte auch die Fähigkeit zur Autosuggestion verstärkt und die blutigen Tränen ausgelöst haben. Das Beispiel, das sie immer dafür brachte, waren Stigmata: Wenn man sich Löcher in den Händen und Füßen beibringen konnte, warum sollte man dann nicht in der Lage sein, sich dazu zu bringen, Blut zu weinen?
Roberto hat inzwischen aufgegeben. Er weiß nicht, was er denken soll. Während des Tanzes ist er in Valerios Kopf eingedrungen. Er hat die Schreie gehört, den Schmerz gespürt. Sie waren da, waren real. Aber kann es eine andere Erklärung als die von Alice geben?
Das Unverständlichste und Beunruhigendste an der Sache war jedoch erst zutage getreten, als Teresa ihnen die Krankenakten von Paride Manzini besorgt hatte. Es gab keinen Zweifel: Valerios Tumor war vom selben Typ wie der, der seinen Vater das Leben gekostet hatte. Auch das Gewebe war gleich, um nicht zu sagen identisch. Verschiedene Onkologen hatten bestätigt, dass eine Erblichkeit vorliegen könnte.
Das Problem ist nur, dass Paride Manzini nicht mit Valerio Ferri blutsverwandt war. Er kann ihm infolgedessen keinerlei körperliche Krankheit vererbt haben. Allerdings hat er ihm das Verlangen nach Rache eingepflanzt, und vielleicht hat der Tumor dieses Verlangen, das sowieso schon in Valerio schlummerte, noch verstärkt und schließlich auf die Spitze getrieben. Seit frühester Kindheit mit Bildern des Todes erzogen, hat er irgendwann selbst geglaubt, die Stimmen der Märtyrer zu hören, um den Drang zu töten zu rechtfertigen. Und der Zufall in Gestalt des fünfzigsten Jahrestages der Massaker und die wenige Zeit, die er noch zu leben hatte, haben diesen Drang noch verstärkt. Vielleicht aber war Paride auch wirklich Valerios Vater?
»Auf geht’s«, sagt Alice und zwingt sich, sich wieder auf diesen ersten Sommertag zu konzentrieren. Es gibt keine Antworten. Vielleicht wird es nie welche geben.
Sie geht zu dem Briefkasten neben dem Rathaus. Lange betrachtet sie den Umschlag in ihrer Hand. Dann wirft sie ihn ein, lächelnd.
Sehr geehrter Questore Bernini,
ich wende mich an Sie, um Sie darum zu bitten, auf unbestimmte Zeit vom Dienst suspendiert zu werden, um mich tief greifenden medizinischen Untersuchungen zu unterziehen, eine gesundheitliche Störung betreffend, deren Symptome ich Ihnen bereits geschildert habe und für die ich eine umfangreiche Dokumentation beilege. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie außerdem bitten, sollten die obengenannten Untersuchungen meine Eignung, weiterhin der Polizei anzugehören, bestätigen, dass mein Einsatzort verlegt wird. Ich erkläre mich
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