Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
vor:
»Und wofür trainiert einer, der Baumstämme durch die Gegend schleppt?«
Puntoni drehte sich abermals zu ihm um, sichtlich genervt.
»Na, für die Festa della Panca.«
Und damit drehte er die Lautstärke des Radios hoch, aus dem der wiedererstandene Kommentator beklagte, dass vor dem Tor eine Abseitsstellung übersehen worden sei, indes Puntoni den Blick auf die Straße richtete, wo das mit den Kurven schon wieder losging.
Piergiorgio stellte keine weiteren Fragen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
Im Dorf angekommen, wurde Piergiorgio zur Casa Zerbi gebracht, in der er für seinen gesamten Aufenthalt unterkommen sollte.
Die Casa Zerbi war eines von wenigen Gebäuden im Dorf, die über mehr als zwei Stockwerke verfügten; fast alle Häuser, die Piergiorgio unterwegs zu Gesicht bekommen hatte, in Hanglage am Herzkasperweg, begnügten sich mit einer Kombination aus Erdgeschoss und erstem Stock hinter einem Fünfzigerjahreverputz, eine Hülle, die ursprünglich einmal elfenbeinfarben gewesen sein musste, gegenwärtig jedoch eher an verschimmelten Milchkaffee denken ließ. Die einzigen zwei Bauten, die sich von den anderen abhoben, waren das Restaurant, vor dem auf einer hölzernen Tafel der geschnitzte Schriftzug La Pignata prangte, sowie das Haus von Signorina Conticini, deren Garten eine bemerkenswerte Sammlung von Zwergen zu bieten hatte. Über sie alle wachte nicht etwa Schneeweißchen, sondern eine überlebensgroße Madonna, zu allem Überfluss mit einem blinkenden Leuchtherzen ausgestattet.
Ganz oben am Hang dagegen hatten die wenigen Gebäude, die den Hauptplatz säumten, drei Stockwerke oder mehr. Sie stammten allesamt aus der Zeit vor 1900 und waren von entschieden gediegenerer Bauweise. Sowohl an Größe wie an optischem Reiz alles überragend stand das Haus des Bürgermeisters, Casa Benvenuti: ein großzügiges, solides Bauwerk mit einem eisenbeschlagenen Tor, das etwaigen Eindringlingen schon vor der breiten Außentreppe Einhalt gebot. Außer Konkurrenz lief natürlich die Kirche, benannt nach ihrem Schutzpatron Sant’Antonio Abate, dem heiligen Antonius der Einsiedler. Ein hässliches Gebäude ungewisser stilistischer Provenienz, das einzig durch seine Höhe auffiel und dessen religiöse Funktion allein am Kirchturm abzulesen war, welcher die Kirche selbst an Hässlichkeit fast noch übertraf. Das edelste Haus von allen, der Palazzo Palla, Heimstatt der Marchesi Filopanti Palla, die sich vom gemeinen Volk auch räumlich distanzierten, stand freilich außerhalb des Dorfes. Der Palazzo lag noch etwas höher am Hang als der Kirchplatz, aber durch einen guten Kilometer unasphaltierte Straße davon getrennt.
Gegenüber der Kirche stand die Casa Zerbi: ein Gebäude mit einer Treppe aus Holz und Eisen und Vollholz-Fensterläden, drei Stockwerke zuzüglich einer Mansarde, die normalerweise als Gästezimmer diente.
Und just in dieser Mansarde machte sich Piergiorgio ans Auspacken, nachdem er den Raum in Besitz und selbst wieder etwas Farbe angenommen hatte. Er räumte seine Kleidung und alles Weitere aus dem Koffer, was er brauchen würde, um zwei Wochen fern von zu Hause zu überstehen: seine Laufklamotten, Bücher, Laptop, i-Pod und so weiter; in großer Eile, versteht sich, denn in weniger als einer Stunde stand schon das Begrüßungsessen auf dem Programm, und der Ärmste musste sich noch duschen, rasieren und umziehen.
Piergiorgio war noch mit dem Auspacken beschäftigt, als sein Handy klingelte. Na klar.
Professor Ferroni. Komisch, ich hätte gewettet, es ist die Mamma.
»Pazzi, sind Sie das? Wie geht’s? Sind Sie schon angekommen?«
»Ja, ich bin’s, Professor. Ja, ich bin schon da. Alles in Ordnung.«
»Und das Dorf? So scheußlich wie auf dem Foto?«
»Na ja, ein bisschen schon. Sagen wir’s so: Las Vegas ist das hier nicht gerade.«
»Und wie sind die Einheimischen? Hat man Sie gut aufgenommen?«
»Ja, schon. Einer hat mich abgeholt. Also, Leute habe ich bisher zwei gesehen. Soweit ›Leute‹ das richtige Wort ist. Der eine sah aus wie ein Bär in Menschenkleidung, den anderen kann ich Ihnen gar nicht richtig beschreiben. In Form schienen sie jedenfalls beide zu sein.«
»Na, darum geht’s uns doch«, sagte Ferroni und sprach dann plötzlich im Ton eines Auktionators weiter. »›Montesodi Marittimo, das stärkste Dorf Europas.‹ Ist die Philologin auch schon da?«
»Ich glaube schon. Angeblich ist sie auch hier untergebracht, aber ich habe sie noch nicht
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