Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Fieber und die Erschöpfung werden schuld daran sein.
»Du weißt es.«
»Ich weiß nichts über dich. Nicht einmal deinen richtigen Namen.«
»Valerio Manzini ist einer meiner Namen. Ich habe meine Eltern beide geliebt. Ich habe meine Leben beide gelebt.«
Ich muss diese Geschichte beenden. Rasch. Von dem Mann, dem er gegenübersteht, empfängt er Verzweiflung und Schmerz. Um ihn herum schwingt eine negative Aura. Gefährlich. Er ist bewaffnet. Vergiss das nicht.
»Ich habe den Henker des Apennins verhaftet«, sagt er, wobei er vergeblich seine Schwäche zu verbergen sucht. »Er erleidet das, was Sfregio erlitten hat. Du hast dein Ziel erreicht.«
Valerio starrt zu Boden. Schließlich zeigt er auf einen Punkt auf dem Sockel.
»Auf diesem Denkmal, dem Grab meiner Familie«, flüstert er kaum laut genug, um den Wind zu übertönen, »ist eingraviert: ›Mögen die Märtyrer in Frieden ruhen, möge den Märtyrern Gerechtigkeit widerfahren.‹ Die Gerechtigkeit der Märtyrer ist mein Ziel.«
»Indem du ein kleines Mädchen und seine Eltern ermordest? Erfüllt sich so die Gerechtigkeit der Märtyrer?«
»Mein Bruder war ein kleiner Junge«, sagt Valerio schließlich, mit kläglicher Stimme, »er ist auf Knien gestorben, durch einen Schuss in den Kopf. Während er seinen Vater – meinen Vater! – angerufen hat, der im selben Moment gehängt wurde! Seine Mutter – meine Mutter! – war wenige Augenblicke vorher ermordet worden. Alles vor seinen Augen. Und vor meinen. Ich war da, ich habe es gesehen.«
»Ein grauenvolles Verbrechen, schrecklich. Es hätte nicht geschehen dürfen. Und es hätte sich nicht wiederholen dürfen. Vor allem anderen besagt die Inschrift auf dem Sockel: ›Möge es nie wieder geschehen.‹ Man darf nicht unendlich Blut vergießen.«
»Die Märtyrer.« Ein Seufzer, kaum zu hören.
»Die Märtyrer?« Roberto macht ein paar langsame Schritte auf ihn zu.
»Die Märtyrer haben mir befohlen zu töten. Ihre Stimmen sind quälend.«
Roberto bleibt wie erstarrt stehen. »Die Stimmen der Märtyrer?« Ich habe sie gehört, als ich getanzt habe. Ich war in seinem Kopf.
»Sie lassen meinen Kopf zerspringen mit ihren Schreien, ich spüre das Fleisch, das von der Folter gepeinigt ist, die sie erlitten haben. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich bin nur ein Werkzeug. Sie wissen, was richtig und was falsch ist. Ich nicht.«
Diese Worte wecken eine überraschende und unaufhaltsame Energie in Roberto. Er riecht, wie sich der Geruch der verrotteten Blumen unter den sauberen Duft des Schnees mischt und ihn überdeckt. Der Wind kann ihn nicht zerstreuen, ja, er scheint eher noch mehr davon zu bringen.
Er kehrt dem Mörder den Rücken zu, macht sich verwundbar. Er kämpft, er widersteht. Es darf nicht passieren, nicht jetzt! Er beißt die Zähne aufeinander, bis sie beinahe zerspringen. Er stöhnt. Er scheint jene dunkle Kraft aufgehalten zu haben.
Dann bricht etwas mit Gewalt los. Das Bewusstsein strömt, schnell, aus ihm heraus. Seine Züge verzerren sich. Er entfernt sich von dem Denkmal. Und von der Realität. Er empfindet keinen Schmerz mehr, der Geist verlässt diesen fiebernden Körper. Das Geräusch seiner Schritte, die in dem hohen Schnee versinken, wird hypnotisierend.
Der Tanz beginnt.
Ich sehe durch die Augen eines anderen Menschen, auch wenn der Ort sich nicht geändert hat. Ich sitze am Fuß des Denkmals. Ich sitze auf dem Grab meiner Eltern. Ich sehe meinen Vater wieder, stranguliert vom Eisendraht. Ich sehe wieder den Kopf meiner Mutter explodieren. Sehe Renatino aufschreien und auf ihrem Körper sterben.
Versteckt zwischen den Bäumen war ich dabei. Im Arm des großen Partisanen, des Professore, jenes Paride Manzini, dem ich alles zu verdanken habe. Von ihm habe ich gelernt, nicht zu vergessen.
Alles wechselt. Ich ende an einem dunklen Ort. Ohne Zeit, ohne Raum. Es gibt nichts, nur Schreie. Herzzerreißende Schreie. Schreie, die von solchem Leid künden, dass man sie unmöglich ertragen kann, ohne verrückt zu werden. Sie sind in mir. Ich bin ihr Werkzeug. Ich bringe die Gerechtigkeit der Märtyrer.
Robertos Schritte werden immer schneller. Er streift die Säulen des Bogengangs, dann hält er wieder auf die Mitte des Platzes zu, auf den Engel.
Es wechselt noch einmal. Ein junger Mann in seinem Bett. Er hört mich. Hastig setzt er seine Brille auf. Er steht auf. Er versteht. Weint. Bittet um Gnade. Ich habe seinen Artikel in der Hand. »Friss ihn«, befehle ich. Ich frage
Weitere Kostenlose Bücher