Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Zimmer. Ohne Ziel, mit nervösen, hüpfenden Schritten. Zu wenig Schlaf und zu viele Gedanken. Sie hat sich gerade geschickt aus einem überaus nervtötenden Mittagessen mit irgendeinem Anwaltskollegen ihres Vaters herausgewunden, dem Inhaber einer Kanzlei in Ferrara. Und der, welch Zufall, einen Sohn etwa in ihrem Alter hat. Junggeselle.
Sie hat ihn an der Tür getroffen. Gewogen und für zu leicht befunden. Hochgewachsen, die Haare voller Gel, den Blick voll gespielter Selbstsicherheit, gut aussehend und sich dessen bewusst. Zu einer anderen Zeit wäre sie mit ihm ausgegangen. Dann hätte sie ihn fertiggemacht. Worüber kann man denn schon mit einem wie dem reden, wenn nicht über Verfahren und Fälle, Ferien in Cortina d’Ampezzo, Porsche (als Symbol, nicht als Auto, ein Thema, das sie ja wenigstens noch interessiert hätte)?
Innerhalb von drei Minuten hat sie ihn unter dem enttäuschten Blick ihres Vaters abserviert, um dann wieder im Leeren zu kreisen. Sei es nun der Schlafmangel, sei es die Müdigkeit, aber ihre Gedanken kehren immer wieder nach Case Rosse zurück. Ununterbrochen strömen die Fragen herbei.
Sie klatscht sich mit offenen Handflächen auf den Kopf. »Warum rufst du ihn nicht einfach an? Es kann ja wohl nicht so schwierig sein, das Kommissariat von Case Rosse im Telefonbuch zu finden.« Sie hat mit sich selbst gesprochen. Besorgt beobachtet sie die Türen auf jeder Seite des Salons. Niemand. Sie blickt zu dem kunstvollen Kronleuchter aus Muranoglas empor und streckt die Arme aus. Sie würde wirklich gern wissen, was gerade geschieht. Ach, lieber doch nicht.
Sie fängt eine zornige Stimme auf, die aus einem der anliegenden Zimmer dringt. Ruggero Maria Capelveneri brüllt herum. Er hat sich vorgenommen, bis zum Dreikönigstag zu Hause zu bleiben, aber der Unterschied zu den Tagen, die er in der nur ein paar Häuser weiter in Richtung der zwei Türme liegenden Kanzlei verbringt, ist marginal, um nicht zu sagen kaum wahrnehmbar. Akten studieren, Arbeitsessen, Verträge aufsetzen. Und ständig Telefonate mit Mandanten, Anwälten, Richtern.
Das eine oder andere Wort schnappt sie auf.
»Halt dich von ihr fern! Hast du das verstanden? Ich hab’s dir schon vor vier Jahren gesagt, aber du hast wohl nicht richtig zugehört. Wenn du es wagst und ihr wieder wehtust, dann werde ich dich eigenhändig fertigmachen.«
Alice stürmt ins Arbeitszimmer ihres Vaters. Ohne anzuklopfen und ohne um Erlaubnis zu fragen, sie verstößt gegen alle ungeschriebenen Regeln.
Ruggero Maria Capelveneri sitzt hinter einem riesigen Schreibtisch aus dem 18. Jahrhundert, umgeben von Ölgemälden, die ernste Gesichter zeigen, und alten Bücherregalen voller Fachliteratur. Eingehüllt in den Rauch der Zigarre, die er in der linken Hand hält, mit der er die Luft zerhackt.
»Tu, was am besten ist: Verschwinde einfach wieder!«, brüllt er mit hochrotem Gesicht in den Hörer. Kleine Schweißtröpfchen treten auf seinen kahlen Schädel.
»Gib ihn mir.« Alices Stimme ist bestimmt.
Ruggero Maria Capelveneri bemerkt sie erst in diesem Augenblick. »Wie bist du denn hier hereingekommen?«, fragt er, überrascht durch den Ton und das Verhalten der Tochter.
»Ich sag’s nur noch ein einziges Mal, dann mach ich’s wie Mama: Ich geh aus dem Zimmer, packe meine Sachen, und du siehst mich nie wieder. Ich werde nicht mal einen Zettel dalassen. Gib ihn mir.«
Der Anwalt ist zutiefst verblüfft. Er ist an Unterwürfigkeit gewöhnt, daran, hofiert, umschmeichelt, gefürchtet zu werden. Er überlegt, ob er sie anschreien und zum Teufel schicken soll. Alice tut es leid. Sie weiß, dass sie ihn mitten ins Herz getroffen hat.
»Ich muss ihn sprechen.« Ihr Tonfall ist wieder der der Tochter, die mit dem Vater spricht.
Auch der Ausdruck im Blick des Vaters ändert sich. Er steht auf und lässt den Hörer auf der Mahagonitischplatte liegen. Während er aus dem Raum geht, pafft er heftig an seiner Zigarre, um sie wieder zu entzünden.
Alice nimmt das Telefon. »Roberto?«, flüstert sie.
Er hat nichts von der Auseinandersetzung verstanden, nur unbestimmte Geräusche gehört. Als er ihre Stimme erkennt, öffnet und schließt er so schnell hintereinander den Mund, dass er riskiert, sich zwischen den klappernden Zähnen auf die Zunge zu beißen.
»Mein Vater kann wirklich schrecklich sein.«
»Ich schwöre dir, bei dir zu Hause anzurufen, war meine allerletzte Option. Ich hab’s in der Poliklinik versucht, aber sie haben mir gesagt,
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