Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
dass du deinen Dienst erst heute Abend antrittst.«
Alice versteht ihn sehr gut. Berninis Reaktion auf sie war geradezu liebevoll im Vergleich dazu, wie ihr Vater Roberto aufgenommen hatte bei dem einzigen Mal, bei dem sie sich begegnet waren.
»Mich erwarten auch heute Nacht zwölf Stunden Dienst. Das ist das Leben in der Facharztausbildung. Man arbeitet wie ein vollwertiger Arzt, aber für achthunderttausend Lire im Monat. Brutto. Aber du hast sicher nicht riskiert, dich von meinem Vater durch den Wolf drehen zu lassen, um dich über meine beruflichen Unannehmlichkeiten zu informieren, kann ich mir vorstellen.«
»Ich brauche deine Hilfe«, antwortet er und bemüht sich, ruhig zu klingen.
»Genau wie in Rom. Na gut, schieß los.« Sie bereut es schon, Rom erwähnt zu haben, bevor sie den Satz beendet hat. Zum Glück fährt er fort, als hätte er es nicht gehört.
»Während du Bereitschaftsdienst in Case Rosse gemacht hast, hast du da einen Einsatz gehabt?«
»Verschiedene. Vor allem, um Leuten zu Hilfe zu kommen, die’s mit dem Wein übertrieben oder sich geprügelt hatten, gefallen oder ohnmächtig geworden waren oder sich übergeben mussten. Oder alles zusammen. Die sind alle Alkoholiker in deinem Dorf da.«
»Wie läuft das? Fährt jedes Mal der Krankenwagen los?«
»Nein, wenn niemand transportiert werden muss oder man die Reanimationsausstattung nicht braucht, bleibt er in der Rettungswache, falls ein ernster Fall reinkommt. Der Arzt fährt mit dem Panda, auch wenn mir mein Celica ganz bestimmt andere Gefühle bescheren würde, nachts, auf dem Eis.«
Treffer, denkt Roberto. »Bist du zwischen sechs und sieben im Einsatz gewesen?«
Alice denkt still nach. »Kurz nach sechs bin ich zu einer Party von Jugendlichen auf einem alleinstehenden Hof gerufen worden. Kein Einziger von ihnen war noch nüchtern genug, um zu fahren, also bin ich lieber hingefahren, bevor ich noch einen von denen auf dem Gewissen hatte. Ich habe eine Augenbraue hochgezogen, hab MCP -Tropfen und ein paar Ohrfeigen verteilt. Ich bin ziemlich viel losgeworden.«
»Und der Krankenwagen …«
»Ist in der Station geblieben.«
Zweiter Treffer. »Bist du allein hingefahren?«
»Zu einem alleinstehenden Haus voll mit einem Haufen halbwüchsiger Betrunkener und unter Strom stehender Jungs? Was meinst du?«
»Wer hat dich begleitet?«
»Einer von den Freiwilligen. Ein kräftiger Typ, der die Bande im Zaum gehalten hat. Der war auch bei mir, als wir zum Monte della Libertà gefahren sind.«
»Wie lange seid ihr weg gewesen?«
Alice wird allmählich ungeduldig. »Weniger als eine Stunde, eher vierzig Minuten, inklusive Hin und Rückfahrt. Das kommt mir vor wie ein Verhör. Brauche ich einen Anwalt? Mein Vater ist zwar kein Strafanwalt, aber ich bin sicher, dass er mich mit Freuden gegen dich verteidigen würde.«
»Ich versuche nur, Informationen zu sammeln. Sobald das Bild komplett ist, erkläre ich dir alles. Immer unter der Voraussetzung, dass es da überhaupt was zu erklären gibt.«
Alice stöhnt. »Das will ich doch hoffen. Mach weiter.«
»Wer ist in der Station geblieben, während du weg warst?«
»In der Silvesternacht waren wir zu viert im Dienst, mich eingeschlossen. Da war so ein Stier von einem pensionierten Sizilianer, ein Arschloch und Macho. Der hat mich die ganze Zeit Signorina statt Dottoressa genannt. Raffaele? Sante? Warte … sie nennen ihn den Philosophen. Der redet und redet und erzählt Anekdoten und Sprichwörter. Er ist mit seinem Sohn dageblieben. Er ist gefahren, als wir zum Monte della Libertà gekommen sind.«
Salvatore Rende. Dritter Treffer, fehlt nur noch einer. »Und wo war der Krankenwagen, während du bei den betrunkenen Jugendlichen warst?«
Alice sagt lange nichts. Dann: »Ich werde nie verstehen, wie du das machst«, murmelt sie. »Vor der Rettungswache sind drei Parkplätze. Einer für den Wagen des Arztes, da hat sich an Silvester mein Wagen den Hintern abgefroren. Der zweite für den Panda und der dritte für den Krankenwagen. Patienten und Freiwillige parken irgendwo entlang der Straße. Als ich zurückgekommen bin, hatte ich den Eindruck, dass der Krankenwagen an dem Platz stand, wo vorher der Panda gestanden hatte. Ich hab gefragt, ob es irgendwelche Notrufe gegeben hat, aber dieser Typ – Sante oder was – hat Nein gesagt. Also habe ich gedacht, ich hätte mich geirrt, weil ich anfing, müde zu werden.« Sie erkennt den roten Faden, den Roberto verfolgt. » Santapolenta, du
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