Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
fähig.«
Roberto kann diese Leier nicht mehr ertragen. »Ausgerechnet am Monte della Libertà steht ein Denkmal, das an ein Massaker am 1. Januar 1945 erinnert. In Case Rosse!«
Raimondi verbirgt seine Feindseligkeit nicht mehr. »Sie sind einer ed fòra, sonst würden Sie nicht so leichtfertig daherreden. Die Dorfbewohner sind ’45 Opfer des Massakers vom Prà grand geworden. Ohnmächtige Zuschauer, genau wie dieses Mal.«
Die gleichen Worte wie in dem Artikel. Das spricht für Bondis Glaubwürdigkeit.
In dem Augenblick kommt Manzini mit dem Kaffee.
Raimondi trinkt einen Schluck und schnalzt mit der Zunge. »Dem hast du einen Schuss von deinem Nusslikör verpasst, was?« Manzini nickt zufrieden. Der Bürgermeister wendet sich an Roberto. »Der ist der beste auf dem ganzen Apennin.«
Trotz der scheinbaren Herzlichkeit vermittelt die Stimmung in dem Zimmer Manzini nicht den Eindruck, als sei es angebracht, noch länger zu bleiben. Er schließt die Tür so leise wie möglich hinter sich. Die beiden Männer konzentrieren sich auf den Kaffee. Als Roberto wieder das Wort ergreift, ist die Spannung alles andere als gelöst.
»Ich bin einer ed fòra, ich hoffe, dass die Leute von Case Rosse mit mir zusammenarbeiten. Auch Sie.«
Raimondi glättet sich mit zwei Fingern den Schnurrbart. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
»Dann erklären Sie mir doch mal, wie es kam, dass Sie schon da waren, um die Leichen zu bewundern, als ich am Monte della Libertà angekommen bin.«
»Nicht in diesem Ton. Ich habe nichts bewundert. Mein Amt verpflichtet mich dazu, dort zu sein, wo die Bevölkerung mich braucht. Ganz genau wie Ihres.«
»Sie haben mir nicht geantwortet.«
Raimondi poltert los: »Jeden Neujahrsmorgen gehe ich zu Alver. Das ist Tradition, dass der erste Bürger der Stadt den ersten Kaffee des Jahres trinkt. Kuriositäten des Lebens auf dem Lande, die Sie ganz sicher nicht interessieren. Wie auch immer, jemand in der Wirtschaft hat gesagt, es lägen Leichen auf dem Prà grand. Ich weiß nicht mehr, wer«, erklärt er.
»Dieser Jemand war nicht zufällig Salvatore Rende?«
Raimondi runzelt die Stirn. »Ich erinnere mich nicht, ehrlich.«
»Erinnern Sie sich wenigstens, ob Rende auch bei Alver war?«
Wie unter großer Anstrengung nickt Raimondi. Seine Stimme wird noch näselnder. »Er war da. Was wollen Sie denn, die ganze Nacht auf der Rettungswache, der Arme. Da ist ein Espresso zur Stärkung doch das Mindeste.«
Dann tönt er wieder mit lauter Stimme: »Dieses arme Mädchen tut mir so unendlich leid. Und wie mir auch all den anderen braven Bürgern von Case Rosse. Ich verstehe nicht, wie Sie Ihre Ermittlungen überhaupt hier durchführen können.«
»Ich dagegen verstehe nicht, wie ich sie irgendwo anders durchführen sollte. Es sei denn, Sie könnten mich davon überzeugen, dass der Mörder den Ort, an dem er die Leichen abgelegt hat, zufällig ausgewählt hat, denn sie wurden nicht am Monte della Libertà ermordet.«
»Ich habe Ihre Meinung in der Zeitung gelesen. Ich kann Ihnen nur raten, vorsichtiger zu sein, vor allem wenn die Ermittlungen so vertraulich sind, wie Sie sagen. Die Leute sind sehr nervös. Die ganze Zeit im Nebel, da kann man schon mal den Kopf verlieren. Das hat es noch nie gegeben, dass es Anfang Januar noch nicht geschneit hat, wissen Sie.«
Roberto schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ist das eine Drohung?«
Der Bürgermeister bewahrt die Fassung. »Glauben Sie an Gott?«
»Was hat Gott denn damit zu tun?«
»Gott hat mit allem etwas zu tun. Und die göttliche Gerechtigkeit mag manchmal unverständliche Wege gehen, aber sie folgt immer einer Logik.«
Roberto schweigt und mustert seine Fingerspitzen, die zittern. »Ein neunjähriges Mädchen ist mit einem Gewehrschuss in den Nacken ermordet worden. Wollen Sie mir erklären, wo hierin die göttliche Gerechtigkeit liegt?«
»Ich zweifle nicht daran, dass es sie gibt, auch wenn Sie und ich sie nicht erkennen können.«
Mehr gibt es nicht zu sagen. Der Bürgermeister greift zur Krücke und begibt sich, hinkend, zur Tür. In der Eingangshalle wendet er sich an Manzini.
»Versuch mal, dem Kommissar ein bisschen zu helfen, die Leute von hier zu verstehen. Nur so kann er einer di nòster werden.«
»Dazu habe ich nicht die geringste Lust«, antwortet Roberto, ohne Raimondis ausgestreckte Hand zu drücken.
Alles andere als uninteressant. Jemanden, der im Mord an einem kleinen Mädchen göttliche Gerechtigkeit erkennt,
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