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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuliano Pasini
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findet Alice ihre Selbstkontrolle wieder.
    Sie schiebt den Mann von sich weg, dessen Haar jetzt von einer Seite des Kopfes heruntergeklappt hängt, und geht telefonieren. Zum Glück findet sie ein Telefonbuch. Ein noch größeres Wunder ist, dass sie sogar eine Verbindung bekommt, auch wenn es sich anhört, als würde jemand sie braten.
    Sie wird durch eine Telefonzentrale geschleust, bevor sie denjenigen an den Apparat bekommt, den sie sprechen möchte. Eine raue und schwer atmende Stimme fährt sie grob an: »Darf man erfahren, was ihr da vorgehabt habt, du und dieser andere Trottel? Man entlässt sich in einem solchen Zustand nicht selbst aus dem Krankenhaus, das müsstest du wissen, du bist schließlich Ärztin! Ich wusste, dass du irgendwelches Chaos anrichten würdest. Sag mir, wo …«
    »Seien Sie still und hören Sie mir zu«, fährt sie ihm bestimmt dazwischen. »Ich fürchte, dass die Verbindung abbricht.«
    Sie erzählt ihm alles. In knappen, aufgeregten Worten, verschweigt die Passagen, die Berninis analytischer Verstand selbst rekonstruieren kann. Am Ende ist sie erschöpft. Am liebsten würde sie wieder weinen.
    »Wir kommen«, kann sie nur noch hören. Dann Stille. Sie versucht, eine andere Nummer zu wählen. Nichts. Auch das Licht im Haus erlöscht. Sie wird es nicht mehr schaffen, mit Roberto Kontakt aufzunehmen.
    Im Schlafzimmer, im Halbschatten, sieht sie Tarcisio im Blut knien. Er hat Mattia Bondis Kopf auf seine Knie gelegt und streichelt ihn. Mit halblauter Stimme summt er irgendetwas vor sich hin.
    Alice geht zum Ausgang. Dann rennt sie die Treppen hinunter.

10
    R oberto taucht ins Nichts ein. Der Schneesturm verschlingt die Piazza und hüllt sie in ein ungesundes, düsteres Licht, das das Rot der Häuser verblassen lässt. Der Wind fährt unter die Arkaden, wirft sich gegen die Mauern. Auf dem Boden eine unberührte Schneedecke, die keinerlei Spuren aufweist.
    Er hat sich einen Mantel übergeworfen. Er fühlt, wie der Schnee auf den Wunden an seinem Kopf brennt. Das Fieber stumpft seine Sinne ab und dämpft zugleich den Schmerz. Mit unsicheren Schritten geht er weiter.
    Der Bronzeengel zeichnet sich durch den Sturm hindurch ab, die ausgebreiteten Flügel und die angespannten Arme, die den Leichnam anheben. Das Grab der Opfer von 1945. Noch ein Betrug, noch etwas, das nicht das ist, was es zu sein scheint.
    Er versteht jetzt die Angst in Argìas Blick und die Worte von Alver und Raimondi. Als hätten es alle gewusst. Oder zumindest geahnt. Als hätte Case Rosse irgendetwas in der Art erwartet. Eine Rache. Eine Befreiung von einem stets gegenwärtigen Gedanken, der sich wie besessen im Kreis dreht. Ihm kommt es vor, als verstünde er auch endlich, warum Guerzoni den Bürgermeister angerufen hatte. Er wollte ihm sagen, dass es geschehen ist. Den ersten Bürger informieren, einen, der auf der anderen Seite gestanden hat. Vielleicht.
    Ein Mann sitzt auf dem Sockel der Statue, vornübergebeugt, die Haare im Wind. Unbeweglich, mit geschlossenen Augen, unempfindlich gegenüber dem Schneefall. Wie eine kleinere Ausgabe des Engels, der über ihm aufragt. Er trägt einen langen grauen Mantel, abgewetzt. Auf der Brust ein unverwechselbares Zeichen: ein schwarzer Adler mit ausgebreiteten Flügeln. In den Klauen ein Hakenkreuz.
    Der Wehrmachtsmantel, den der Vater dem Wachtposten abgenommen hatte. Valerio, Comandante Sfregios und Serenas Sohn, adoptiert von Paride Manzini, dem Professore. Mein Kollege, der mich in das Leben des Dorfes eingeführt hat. Mein Freund. Ein Mehrfachmörder, der einem kleinen Mädchen in den Kopf geschossen hat. Beute der Gespenster seiner Seele.
    In dem Augenblick wendet der andere ihm das Gesicht zu. Der Blick wirkt wie eine Klinge, die durch lebendes Fleisch dringt. Er denkt wieder an Teresas besorgte Worte. Irgendetwas in ihm ist definitiv zugrunde gegangen. Die Augen des Wesens – das ist nicht Valerio, das ist er nicht mehr!  – sind von einem stumpfen Weiß, ohne Licht darin. Ohne Pupillen. Wer solche Augen hat, kann keine Seele mehr haben.
    Der erste Impuls besteht darin, diesem Albtraum zu entfliehen. Er drängt ihn zurück. Ich muss es wissen.
    »Wer bist du?«, fragt er. Er erwartet die Stimme der Toten, die des Ungeheuers aus dem Tanz.
    Doch es antwortet ihm Manzinis Stimme. Die ganz normale, durchdrungen von einer tiefen Traurigkeit. Auch die Augen scheinen ihre normale Farbe wieder angenommen zu haben, eines dunkel, eines blau. Es war eine Halluzination. Das

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