Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Arm halten, bis er sich wieder beruhigt. Auch Veronica und Serena sind schon ganz verunsichert, wenn sie zu Hause sind.«
Die beiden Namen sind wie eine Ohrfeige. Er hat seine Töchter nach der Mutter und der Frau von Francesco Ferri benannt. Nach seiner Mutter und seiner Großmutter, die durch die Hand des Henkers gestorben sind.
»Er redet vom Krieg, genauso wie Paride. Schreit immer, dass jemand nicht ermordet werden soll, verflucht …« Teresa zögert kurz. »Und er benutzt eine andere Stimme. Gruselig. Als steckten mehrere Personen in ihm. Mein Gott, du glaubst bestimmt, ich wäre verrückt.«
Roberto glaubt das ganz und gar nicht. Er denkt an die Stimme, die ihm vor ein paar Stunden am Telefon geantwortet hat. Jene, die er während des Tanzes das Epitaph hat rezitieren hören.
»Ich habe Angst, dass er die Krankheit seines Vaters geerbt hat. Es heißt, dass man leichter einen Tumor bekommt, wenn schon andere in der Familie einen hatten.«
Paride Manzini kann ihm nichts vererbt haben. Er ist nicht sein biologischer Vater.
»Entschuldige bitte«, fährt Teresa fort, nachdem sie sich die Nase geputzt hat. Vielleicht war es auch nur eine Störung in der Verbindung, die Bedingungen werden zunehmend schwieriger. »Ich kann einfach nicht mehr. Wir sind seit so vielen Jahren verheiratet, aber mit ihm zusammen zu sein ist noch nie so schwierig gewesen wie jetzt. Er ist ganz verschlossen, voller Groll. Und er verhält sich vollkommen unsinnig. Weißt du, wohin er bei dem Wetter gefahren ist?«
Robertos Schmerzen scheinen verschwunden. Seine Sinne sind aufs Äußerste wach, trotz des Fiebers. »Wohin?«
»Zum Grab seiner Eltern!«, schreit sie beinahe. »Ihre Gräber liegen auf dem Friedhof della Certosa, in Bologna! Normale Menschen sprechen nicht mit den Toten. Und außerdem, wie kann man sich nur ins Auto setzen bei dem …«
Die Verbindung bricht ab. Der Hörer pendelt stumm und nutzlos in der Luft. Roberto beobachtet den Schneesturm durch das Fenster hindurch. Irgendwo da draußen, in dem schwachen Licht, ist der Bronzeengel.
Valerios wirkliche Eltern sind nicht auf dem Certosa-Friedhof begraben. Viel näher, sehr viel näher.
9
A lice dreht sich mit blitzenden Augen um. Sie legt die Waffe an.
»Was machst du denn da?«, jammert ein Männchen mit großem Kopf, dessen Haar auffällig über die Glatze gekämmt liegt. Er trägt ein kurzärmeliges Unterhemd, das auf Höhe der Schultern leer zu sein scheint und über dem Bauch spannt. Instinktiv hebt er die skelettartigen Arme hoch und zeigt seine Handflächen. Der Fleck, der sich über seiner Hose ausbreitet, drückt seinen Zustand besser aus als jedes Wort.
Sie senkt die Pistole nicht, auch wenn sie nicht denjenigen vor sich hat, mit dem sie gerechnet hatte. »Wer bist du?«
»Tarcisio Ferroni. Ich wohne in der Wohnung gegenüber. Ich bin gekommen, um zu sehen, wie es ihm geht …« Erst jetzt bemerkt er Bondis Leichnam am Boden. »O mein Gott! Warst du das? O mein Gott, o mein Gott. Mattia, Mattia …«
Pure Verzweiflung tritt in die Augen des Mannes. Zuneigung. Alice spürt, dass trotz des Altersunterschieds zwischen ihm und Bondi eine Beziehung bestand, die über eine einfache gute Nachbarschaft weit hinausging. Sie steckt die Beretta wieder in die Tasche.
»Es tut mir leid«, flüstert sie. »Ich habe ihn so gefunden. Ich wollte sehen, ob es ihm gut geht.«
»Bist du von der Polizei?«, fragt Tarcisio, während er die Tränen herunterschluckt.
Alice schüttelt den Kopf. »Nein, aber Roberto hat mich hergeschickt … ich wollte sagen, Kommissar Serra. Zu spät, leider.«
»Wer war das?«
Sie seufzt. »Ich brauche ein Telefon«, sagt sie nur.
Tarcisio fragt nicht weiter. Das Einzige, was für ihn zählt, ist, dass Mattia für immer gegangen ist, ihm ist es nicht wichtig, wer ihn auf dem Gewissen hat. Er zeigt auf die Wohnzimmertür. »Da ist das von Mattia. Ansonsten kannst du auch zu mir gehen. Aber ich weiß nicht, ob du durchkommst bei dem Unwetter.«
Einem Impuls folgend umarmt Alice Tarcisio. Verblüfft versteift sich das Männlein, dann entspannt er sich mit einem Schlag. Er legt den Kopf an ihre Schulter und fängt haltlos an zu schluchzen. »Er war alles für mich«, kann er nur noch stammeln.
Sie weint ebenfalls. Vor Anspannung. Vor Schmerz. Vor Sorge. Vor Hoffnung. Alles, was sie bis jetzt unterdrückt hat, bricht aus ihr heraus. Nachdem sie sich in den Armen eines nach Schweiß und Urin riechenden Unbekannten hat gehen lassen,
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