Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
See im Auge behält. Wind und Regen sowie die Stimmen und die Vibrationen um mich herum nehme ich kaum noch wahr. Und dann sind da nur noch die drei Leichen, die vor mir auf dem Wasser treiben, jede das Opfer von irgendwas – Opfer der Zeit, eines Verbrechens, eines Unglücks oder eines Friedhofs mit Platzmangel.
Die drei Arbeiter sind herübergekommen und stehen jetzt neben mir. Ihre gestammelten, ziemlich übertriebenen Kommentare, die sie eben noch aufgeregt hervorgestoßen haben, sind verstummt. Wir stehen zu viert am Wasser, und darauf treiben drei Personen: als hätten wir uns paarweise eingefunden, nur dass wir einer zu viel sind. Der Anlass verlangt nach Stille; niemand will etwas sagen, das Schweigen brechen. Erneut löst sich Erde vom Ufer und vermischt sich mit dem Wasser, das eine schmutzig braune Färbung angenommen hat. Eine der Leichen sinkt in die Tiefe und verschwindet aus unserem Sichtfeld. Die beiden anderen treiben regungslos auf uns zu. Ich mache keine Anstalten, ins Wasser zu springen und sie herauszuziehen. Keine Frage, das täte ich, wenn die Körper wild um sich schlagen würden. Doch das ist nicht der Fall. Sie sind tot, womöglich schon sehr lange. Auch wenn schnelles Handeln angesagt scheint, täuscht der Eindruck. Beide Leichen treiben mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser, beide offensichtlich bekleidet, und gar nicht mal so schlecht. Als wären sie zu einer Veranstaltung unterwegs. Einer Beerdigung oder Hochzeit. Von den Seilen, die an ihren Körpern befestigt sind, mal abgesehen.
Der Baggerführer starrt die zwei Leichen an und blinzelt immer wieder, als würden ihm seine Augen einen Streich spielen. Der Lastwagenfahrer steht, den Mund weit aufgerissen, die Hände in den Hüften, da, während sein Mitarbeiter immer wieder auf seine Uhr blickt. Vielleicht muss er wegen der Sache hier Überstunden schieben.
»Wir müssen sie rausholen«, sage ich, obwohl beide Leichen jetzt gegen die Uferböschung stoßen.
Eigentlich hatte ich nicht vor, mich heute nass zu machen. Außerdem hatte ich mit nur einer Leiche gerechnet. Aber das kann ich jetzt alles vergessen.
»Warum? Sieht nicht gerade so aus, als würden sie irgendwohin verschwinden«, sagt der Lastwagenfahrer trocken.
»Vielleicht gehen sie wieder unter, wie die andere.«
»Womit sollen wir sie denn rausfischen?«
»Mein Gott, was weiß ich. Mit irgendwas. Einem Ast zum Beispiel. Oder Ihren Händen.«
»Meinen Händen? Kommt nicht in Frage«, sagt er, und die beiden anderen nicken eilig.
»Schön, und wie wär’s mit einem Seil? So was habt ihr doch dabei, oder?«
»An der da«, sagt der Lasterfahrer, in die Betrachtung der uns am nächsten schwimmenden Leiche versunken, »ist schon eins dran.«
»Sieht vermodert aus. Sie haben im Wagen doch bestimmt ein neueres, oder?«, frage ich. Im nächsten Moment hören wir, wie der Motor anspringt, und schauen alle zum Transporter rüber.
Im Führerhaus sitzt der Friedhofswärter.
»Was zum Teufel?«, fragt der Fahrer und läuft Richtung Wagen, doch er ist nicht schnell genug. Der Friedhofswärter lässt den Motor kommen und setzt zügig zurück. Der ungesicherte Sarg rutscht von der Ladefläche und kracht auf den Boden, bleibt allerdings ganz.
»Hey, halt, komm zurück!« Er verfolgt den Lastwagen, doch der Abstand wird rasch größer.
»Wo will er denn hin?«, fragt der Baggerführer.
»Weg von hier, schätze ich.« Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche. »Haben Sie ein Seil im Bagger?«
»Ja, einen Moment.«
Ich rufe auf dem Polizeirevier an und werde zu einem Detective durchgestellt, den ich noch von früher kenne. Als ich ihm die Situation erkläre, meint er, ich solle meinen Rausch ausschlafen. Natürlich gebe es hier draußen auf dem Friedhof Leichen. Es dauert eine Minute, bis ich ihn davon überzeugt habe, dass die Leichen vom Grund des Sees aufgestiegen sind. Und eine weitere, bis er mir glaubt, dass ich keine Witze mache.
»Und bringt Taucher mit«, sage ich, bevor ich auflege.
Der Baggerführer reicht mir ein Seil. Inzwischen ist der Lastwagenfahrer wieder zurück; er stößt ein paar Flüche aus, während sein Mitarbeiter über Handy ihren Chef bittet, jemanden vorbeizuschicken, der sie abholt. Ich knote einen armlangen Ast am Seilende fest und gehe die leicht abschüssige Uferböschung hinunter, um ihn hinter die erste der beiden Leichen zu werfen und sie heranzuziehen. Doch wie sich herausstellt, hat das rutschige Gras unter meinen Füßen schon andere
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