Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Pläne. Eben noch stehe ich am Ufer. Und einen Moment später befinde ich mich im See.
Meine Füße versinken im Schlamm, und das Wasser geht mir bis zu den Knien. Irgendetwas packt meinen Knöchel, ich werde nach vorne gerissen, und meine Arme klatschen neben der Leiche auf die Wasseroberfläche. Schon fange ich an zu sinken. Ich ziehe meine Füße aus dem Schlamm, finde jedoch nirgends Halt. Dieser See ist eine verdammte Todesfalle, und jetzt ist mir auch klar, warum er voller Leichen ist. Diese Leute sind hergekommen, um die Toten zu betrauern, und haben ihnen schließlich Gesellschaft geleistet. Das Wasser ist eiskalt, so dass sich meine Brust und mein Magen zusammenziehen und meine Muskeln verkrampfen. In meinen geöffneten Augen brennt das Wasser. Um mich herum ist nichts als Dunkelheit, und die Stille macht alles nur noch schlimmer. Ich spüre, wie die Toten die Hände nach mir ausstrecken, um mich nach unten zu zerren; sie wollen, dass ich mich zu ihnen geselle, sie wollen frisches Blut.
Dann schieße ich plötzlich wieder zurück an die Oberfläche; meine Hand hält das Seil, das mich nach oben zieht, fest umklammert. Ich strample mit den Füßen. Richte mich auf. Und eine Sekunde später finde ich mich direkt neben einer aufgedunsenen Frau in einem langen weißen Kleid wieder, die auf dem Wasser treibt. Es sieht aus wie ein Hochzeitskleid. Ich stoße mich von ihr ab, und die drei Männer helfen mir ans Ufer. Dort setze ich mich hin, ringe nach Luft. Meine Schuhe habe ich verloren.
»Meine Güte, sind Sie in Ordnung?«
Es klingt, als würde die Frage von der anderen Seite des Sees kommen, und ich bin mir nicht sicher, wer sie gestellt hat. Vielleicht alle drei gleichzeitig. Während ich mich auf den Knien vornüberbeuge, fange ich an zu husten. Ich habe das Gefühl, als müsste ich ersticken. Ich zittere und bin wütend, aber vor allem ist mir die ganze Sache peinlich. Doch keiner der Männer lacht. Besorgt neigen sie sich über mich. Angesichts der Leichen, die neben uns auf dem Wasser treiben, ist klar, dass das hier kein Witz ist.
»Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten«, erklärt der Baggerführer. »Ich wollte Ihnen das eben schon sagen.« Er spricht den letzten Teil aus, als wäre jedes Wort ein eigener Satz, und verzieht dabei leicht das Gesicht. Es klingt, als wäre das, was er zu sagen hat, noch viel schlimmer als das, was gerade passiert ist. Mir fällt da nur eine Sache ein.
»Ja?«
»Kratzer. Auf dem Sargdeckel.«
»Warum wusste ich, dass Sie das sagen würden?«
Jetzt ist er derjenige, der mit den Achseln zuckt. »Schmale Rillen. Einkerbungen. Wie von einer Schaufel«, sagt er.
»Sie glauben, dieser Sarg wurde schon mal ausgegraben?«
»Das glaube ich nicht nur, es ist so. Auf dem Sarg sind Kratzer, die garantiert nicht von uns stammen. Mann, ich frage mich, ob die Kiste nicht vielleicht leer ist.«
Kiste. Wie ein Flugzeug oder Boot ist ein Sarg in gewisser Weise ein Gefährt, das Menschen an einen anderen Ort befördert.
Wir gehen hinüber. Durch den Aufprall hat sich ein großer Riss gebildet, der von einer der unteren Ecken über die Seite verläuft. Ich würde ihn gerne öffnen, um nachzusehen, was für eine Fracht er birgt oder ob man ihn ausgeräumt hat, doch die herannahenden Sirenen halten mich davon ab.
Ich sehe zwei Polizeiautos, einen Krankenwagen und zwei Kombis vorfahren.
Kapitel 3
Die Dinge entwickeln sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Es ist ein langsamer, stetiger Prozess. Am Anfang steht eine Fantasievorstellung. Die Fantasie eines sadistischen Versagers, jemand, der isst, atmet und träumt und dessen einziges Verlangen es ist, zu töten. Dann kommt die Realität. Ihm geht ein Opfer ins Netz, er missbraucht es, und oft reicht die Realität an die Fantasievorstellung gar nicht heran. Also gibt es weitere Opfer. Und das Verlangen wird immer größer. Es beginnt mit einem Opfer pro Jahr, daraus werden dann zwei oder drei, schließlich geschieht es jeden zweiten Monat. Oder alle vier Wochen. Sobald die Leichen gefunden werden, beschäftigt sich die Polizei damit. Und mit ihr die Mediziner, Pathologen und Kriminaltechniker, die Fasern, Blutproben und Fingerabdrücke untersuchen, um ein Profil zu erstellen, mit dessen Hilfe der Mörder gefasst werden soll. Dann kommen die Medien ins Spiel und verwandeln die Fantasien des Mörders in pures Gold. Der Tod ist ein einträgliches Geschäft. Bestattungsunternehmer, Sargverkäufer, Wahrsager und Handleser,
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