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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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es für Sinn und Zweck, von dem zu reden, was noch vor uns liegt? Es schickt sich nicht für den Verfasser, der schon längst ein Mann und durch ein strenges inneres Leben und die erfrischende Nüchternheit der Einsamkeit erzogen ist, sich wie ein Jüngling zu vergessen. Alles hat seinen Platz und seine Zeit! Aber einen tugendhaften Menschen hat der Verfasser doch nicht zu seinem Helden erwählt. Und er kann sogar sagen, warum er es nicht getan hat. Weil es endlich an der Zeit ist, dem armen tugendhaften Menschen eine Erholung zu vergönnen; weil der Ausdruck »ein tugendhafter Mensch« im Munde der Menschen hohl und wertlos geworden ist; weil sie den tugendhaften Menschen sozusagen in ein Pferd verwandelt haben und es keinen Schriftsteller gibt, der nicht mit ihm herumkutschierte und es mit der Peitsche und allem, was ihm sonst noch in die Hand kommt, antriebe; weil sie den tugendhaften Menschen dermaßen zermartert haben, daß jetzt auch nicht ein Schatten von Tugend mehr an ihm zu finden ist, sondern von dem Körper nur die Rippen und die Haut übriggeblieben sind; weil es eine Heuchelei ist, wenn sie den tugendhaften Menschen an den Wagen rufen; weil sie den tugendhaften Menschen gar nicht achten. Nein, es ist an der Zeit, endlich auch den Schurken anzuspannen. Spannen wir also den Schurken an!
    Dunkel und bescheiden ist die Herkunft unseres Helden. Seine Eltern waren Adlige; aber ob ihr Adel alt oder erst neueren Datums war, das mag Gott wissen. Von Gesicht sah er ihnen nicht ähnlich; das scheint wenigstens daraus hervorzugehen, daß eine Verwandte, die bei der Geburt zugegen war, eine kleine, kurzgebaute Person von der Art, die man gewöhnlich Kiebitz nennt, als sie das Kind auf die Arme nahm, ausrief: »Es ist gar nicht so geworden, wie ich gedacht hatte! Er hätte seiner Großmutter von mütterlicher Seite ähnlich sein sollen; das wäre das beste gewesen; aber er gleicht, wie die Redensart lautet, weder seiner Mutter noch seinem Vater, sondern einem forschen jungen Manne, der durchgereist ist.« Das Leben blickte ihn anfangs mürrisch und unfreundlich, wie durch ein trübes, verschneites Fensterchen an; er hatte in seiner Kindheit keinen Freund und keinen Kameraden! Ein kleines Stübchen mit kleinen Fensterchen, die weder im Winter noch im Sommer geöffnet wurden, das war seine Behausung; sein Vater war ein kranker Mann in einem langen, mit Lammfell gefütterten Rock und in gestrickten Pantoffeln, die er auf den bloßen Füßen trug; beständig seufzend ging er im Zimmer auf und ab und spuckte in einen Sandnapf, der in einer Ecke stand; der Knabe mußte fortwährend auf einer Bank sitzen, mit der Feder in der Hand, mit Tinte an den Fingern und sogar an den Lippen, und hatte fortwährend die Vorschrift vor Augen: »Lüge nicht, gehorche älteren Leuten und trage die Tugend im Herzen!« Fortwährend hörte er, wie die Pantoffeln durchs Zimmer scharrten und schlurften, und wie eine bekannte, aber stets mürrische Stimme rief »Du hast wieder Dummheiten gemacht!« Dies geschah nämlich immer dann, wenn das Kind, durch die eintönige Arbeit gelangweilt, an einen Buchstaben ein Häkchen oder ein Schwänzchen herangemalt hatte; und auf jenen Zuruf folgte immer ein bekanntes, jedesmal unangenehmes Gefühl, wenn sich lange Finger hinter seinem Rücken nach ihm ausstreckten und ihm mit den Nägeln den Rand des Ohres sehr schmerzhaft zusammendrehten. Das ist das traurige Bild seiner ersten Kindheit, an die er sich kaum eine schwache Erinnerung bewahrt hatte. Aber im Leben ändert sich alles schnell und geschwind; und eines Tages, als die Sonne den Frühling brachte und die Flüsse austraten, nahm der Vater seinen Sohn und fuhr mit ihm auf einem Bauernwägelchen fort, das von einem braungelben Schecken (jener Art von Pferd, die bei den Pferdehändlern Elster genannt wird) gezogen wurde; als Kutscher diente ein kleiner, buckliger Mann, das Oberhaupt der einzigen leibeigenen Familie, welche dem Vater unseres Tschitschikow gehörte; derselbe Mann versah auch fast alle anderen Obliegenheiten im Hause. Sie fuhren mit der Elster mehr als anderthalb Tage, übernachteten unterwegs, setzten über einen Fluß, aßen kalte Pastete und kalten Hammelbraten und gelangten erst am Morgen des dritten Tages nach der Stadt. Die Straßen der Stadt imponierten dem Knaben gewaltig durch ihre ihm unerwartete Pracht, so daß er mehrere Minuten lang den Mund aufsperrte. Dann plumpte die Elster mitsamt dem Wägelchen in eine Grube, mit der eine

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