Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
Vom Netzwerk:
der Kopf biegt sich nicht zurück, um die sich endlos über ihm auftürmenden Steinmassen zu betrachten; da glänzen nicht zwischen übereinander gestellten, dunklen, von Weinreben, Efeu und unzähligen wilden Rosen umsponnenen Bogengängen in der Ferne die ewigen Linien leuchtender Gebirge hindurch, die in den silberhellen Himmel hineinragen. Offen und öde und eben ist alles in dir; wie Punkte, wie Interpunktionszeichen heben sich kaum merklich aus den Ebenen deine niedrigen Städte heraus; nichts entzückt und bezaubert den Blick. Aber welche unbegreifliche, geheime Kraft zieht mich doch zu dir hin? Warum klingt und ertönt, nie verstummend, in meinen Ohren dein wehmütiges Lied, das dich in deiner ganzen Länge und Breite von Meer zu Meer durchzieht? Und was liegt in diesem Liede? Was ruft und schluchzt darin und greift mir ans Herz? Welche Töne umschmeicheln süßschmerzlich meine Seele und dringen in sie ein und schlingen sich um mein Herz? Rußland! Was willst du nur von mir? Welches unbegreifliche geheime Band verknüpft mich mit dir? Warum schaust du mich so an, und warum hält alles, was in dir ist, erwartungsvoll seine Augen auf mich gerichtet? Und noch stehe ich voll Staunen unbeweglich da; aber schon hat eine drohende, regenschwangere Wolke mein Haupt beschattet, und das Denken ist verstummt vor deiner Größe. Welche Verheißung liegt in dieser unermeßlichen Ausdehnung? Wird hier in dir die unendliche Idee geboren werden, da du selbst kein Ende hast? Wird hier der Held erstehen, da er hier Raum findet, um sich zu entwickeln und sich frei zu bewegen? Und drohend umfängt mich der mächtige Raum und wirkt mit furchtbarer Kraft auf mein tiefstes Inneres; eine übernatürliche Macht hat meine Augen erleuchtet … Oh, welch eine glänzende, wundervolle, der Welt unbekannte Ferne! Rußland! …
    »Halt an, halt an, du Dummkopf!« schrie Tschitschikow seinem Kutscher zu.
    »Ich werde dir gleich einen Hieb mit dem Pallasch versetzen!« schrie ein ihnen entgegensprengender Feldjäger mit einem ellenlangen Schnurrbart. »Hol dich der Teufel, siehst du nicht, daß da ein fiskalischer Wagen kommt?« Und wie eine Vision verschwand rasselnd und gewaltigen Staub aufwirbelnd das Dreigespann.
    Wieviel Seltsames, Lockendes, Wundersames liegt nicht in dem Worte »Landstraße«! Und wie wundersam ist sie selbst, diese Landstraße! Ein klarer Tag, herbstliche Blätter, kalte Luft … wickeln wir uns fester in unseren Reisemantel; ziehen wir die Mütze über die Ohren, und drücken wir uns fester und bequemer in die Ecke! Zum letztenmal ist uns ein Schauer durch die Glieder gelaufen, und schon hat ihn ein angenehmes Gefühl der Wärme abgelöst … Die Pferde jagen dahin … Wie verführerisch kommt der Schlummer herbeigeschlichen; die Augen fallen dir zu, und schon hörst du nur noch im Halbschlaf den Kutscher singen: »Nicht weißer Schnee« und das Schnauben der Pferde und das Rasseln der Räder, und schon schnarchst du und drängst deinen Nachbar ganz in die Ecke. Wenn du aufwachst, liegen schon fünf Stationen hinter dir; Mondschein; eine dir unbekannte Stadt; Kirchen mit altertümlichen Holzkuppeln und schwarz gewordenen spitzen Türmchen; dunkle Holzhäuser, und weiße steinerne; hier und da eine vom Mond hell beschienene Fläche: als ob weiße Leintücher über die Mauern und das Pflaster und die Straßen gebreitet wären; diese Flächen werden von kohlschwarzen Schatten schräg durchschnitten; wie glänzendes Metall schimmern die schräg beschienenen Holzdächer, und nirgends eine Menschenseele: alles schläft. Höchstens flimmert irgendwo ein ganz vereinzeltes Lichtchen: ob ein Kleinbürger sich seine Stiefel repariert oder ein Bäcker am Backofen hantiert – was gehen sie dich an? Aber die Nacht! … Ihr himmlischen Mächte! Welch eine Nacht webt und waltet dort oben in der Höhe! Und die Luft und der ferne, hohe Himmel, der sich da in seiner unnahbaren Tiefe so unfaßbar, klar, von Harmonie durchtönt ausbreitet! … Aber der kalte Atem der Nacht weht dir frisch gerade in die Augen und lullt dich ein, und nun schlummerst du und weißt nichts von dir und schnarchst – und ärgerlich dreht sich dein armer Nachbar, den du in die Ecke drückst, hin und her, um die Last loszuwerden. Du erwachst – und wieder hast du Felder und Steppen vor dir; nichts ringsum: überall Einöde, alles frei und offen. Ein Werstpfahl mit einer Zahl kommt dir entgegengeflogen; der Tag bricht an; an dem weiß gewordenen, kalten

Weitere Kostenlose Bücher