Die Toten Vom Karst
deutlich verbessert, doch die Rivalität zwischen diesen voneinander unabhängigen Ordnungskräften blieb bestehen. Die Carabinieri, die dem Verteidigungsministerium unterstanden, fühlten sich oft als etwas Besseres: sie schützten das Vaterland, während sie die Staatspolizei als Organ der wechselnden Regierungen ansahen. Aber man behandelte sich höflich und behielt seine Gedanken für sich. Laurenti war froh, daß der neue Colonnello wenigstens einen komischen Nachnamen trug: Colonnello Valpolicella. Der Anklang an einen billigen Rotwein war aber immer noch besser als, wie bei Proteo, der Gedanke an einen Grottenolm in den Tiefen des Karsts. Suspekt blieben sie sich dennoch, das war Politik und natürliche Konkurrenz.
Laurenti hatte die Halle schnell gefunden. Sie war spärlich beheizt. Die Leute von der Spurensicherung sortierten, was von der Familie Gubian übrig war. Emelda Beano, die Vorgesetzte der Gruppe, gab ihm mit finsterem Blick die Hand. Sie war eine immer streng blickende, magere Frau Anfang Dreißig, der er gerne eine neue Brille gekauft hätte, die besser zu ihrem markanten Gesicht paßte.
»Wie sieht’s aus«, fragte Laurenti.
»Wir versuchen, die Dinge zu ordnen. Soweit möglich nach Zimmern und darin nach logischen Zusammenhängen. Wenn wir fertig sind, kennen wir die Familie in- und auswendig.«
»Habt ihr schon etwas gefunden?«
Sie zuckte die Achseln und machte eine hilflose Handbewegung. »Die dort hinten lesen die Papiere, Unterlagen, Briefe. Da kommt vielleicht am ehesten etwas dabei heraus. Aber das braucht seine Zeit. Ich kann Ihnen genau sagen, was die Familie seit Freitag abend gegessen hat, weil seither der Müll nicht entsorgt wurde. Sonntag aßen sie viel Fisch zu Mittag - und Datteri.«
»Datteri? Die sind doch verboten.« Diese Muschelart wuchs im Stein der Küste, bohrte sich regelrecht hinein und brauchte zwölf Jahre, bis sie ausgewachsen war. Sie hatte Form und Farbe einer reifen, kandierten Dattel. Steindatteln wurden geerntet, indem Taucher mit kleinen Elektrohämmern die Felsen aufschlugen, um die Tiere herauszuholen. Dadurch wurden Fauna und Flora ganzer Küstenstreifen zerstört. Das Gesetz sah nicht nur in Italien harte Strafen vor für jeden, der mit den Datteri in Berührung kam: Fischer, Wirt, Koch und Feinschmecker.
»Deshalb sage ich es ja: es ist nicht einfach, sie zu beschaffen, und teuer sind sie obendrein auch noch.«
»Ich hab sie erst einmal gegessen und verstehe den ganzen Aufwand nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte die Beano. »Wahrscheinlich liegt es am Reiz des Verbotenen.«
»Der Mann hatte ein Feinkostgeschäft. Der weiß natürlich, wie man sie bekommt. Aber weiter hilft uns dies wohl kaum.«
»Daß das Zeug zentnerweise hereingeschmuggelt wird, weiß man schon lange.«
»Was sonst?«
»Schauen Sie sich um, Laurenti. Alles und nichts.«
Er ging durch die Gänge, die zwischen den »Zimmern« freigelassen waren und blieb immer wieder stehen. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn. Es glich Leichenfledderei, was sie hier taten, auch wenn es einen guten Grund dafür gab. Er sah Stapel von zerbrochenem Geschirr, ein paar Bücher, CDs, Videokassetten, Wäsche. Stühle, Kommoden, zwei geborstene Fernsehgeräte. Auf einer Tischdecke am Boden waren Essensreste und Gedecke zusammengestellt. Der zertrümmerte Tisch und vier Stühle in Einzelteilen dahinter. Sie hatten wohl genau so gesessen, als man ihr Leben auslöschte.
»Das ganze Leben einer Familie auf einem Platz. Das wäre etwas für ein Museum. Schrecklich.« Laurenti ging hinüber zu der Ecke, wo die drei Leute über den Papieren brüteten. Er griff nach einem Stapel Briefe und Karten, die zur Geburt des ersten Kindes geschrieben waren, und legte sie, nachdem er sie flüchtig durchgeblättert hatte, zurück, ohne ihre Ordnung zu verändern.
»Wenn ihr die Schriftstücke der letzten Monate beisammen habt, würde ich sie gerne sehen«, sagte Laurenti und ging zurück zu Emelda Beano. Er verabschiedete sich knapp. Als er endlich wieder die kalte Abendluft des Karsts einatmete, verspürte er so etwas wie Erleichterung.
Es war neunzehn Uhr und er hatte Hunger. Da Marco im Judo-Training war und es folglich kein gemeinsames Abendessen gab, fuhr Proteo Laurenti zurück nach Contovello und von dort die Strada del Friuli hinunter zum Leuchtturm. Montagabend und bei diesem Wetter würde er in der »Trattoria al Faro«, dem Restaurant seines alten Freundes Franco, auch ohne Vorbestellung einen Platz
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