Die Toten von Bansin
dort nicht hingelegt hatte. Auch niemand aus seinem Umfeld würde ihm das antun. Oder?
Seine Sprechstundenhilfe stellt ihm eine Tasse auf den Schreibtisch. »Alles in Ordnung, Doktor Moll?« Ihre Stimme klingt besorgt.
Unwillkürlich nickt er, schüttelt dann aber heftig den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Nichts ist in Ordnung! Was ist los? Was passiert hier?«
»Ich weià es nicht. Ich kann es mir nur damit erklären, dass Sie wieder trinken.«
Er ist dankbar für ihre Offenheit. Schwester Marita ist schon seit über 30 Jahren in dieser Praxis, viel länger als er selbst. Sie war noch nie eine Schönheit, mit ihren wirren, längst ergrauten Haaren und der knochigen Figur in einem meist zu weiten Kittel und zu kurzen weiÃen Hosen. Buschige Augenbrauen und eine Hakennase geben ihr etwas FurchteinflöÃendes und der oft barsche Ton passt zum Aussehen.
Aber der Arzt weià ihre Kompetenz ebenso zu schätzen wie die Patienten. Besonders die Kinder lieben sie trotz ihres Aussehens, denn sie kann viel schmerzloser spritzen als die anderen Schwestern und der Arzt selbst und findet immer ein paar aufmunternde Worte oder ein Trostpflaster in Form einer Leckerei. Ihr Chef hat schon oft bedauert, dass sie ganz allein lebt. âºSie sollte einen ganzen Stall voll Enkel habenâ¹, denkt er manchmal.
Jetzt schüttelt er den Kopf. »Nein, wirklich. Jedenfalls nicht absichtlich.« Er schildert den Vorfall im Wald, den er bisher verschwiegen hat. »Jemand will, dass ich wieder trinke. Aber wer und warum?« Er sieht sie verzweifelt an. »Und was war gestern mit dem Befund und den Pralinen? Das macht mir am meisten Angst, dass jemand hier in die Praxis eindringt, um mir zu schaden. Ich hätte die Polizei informieren sollen.«
Sie zuckt unsicher mit den Schultern. »Ja, vielleicht. Aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Ich denke, das sind Zufälle. Den Befund werden wir bestimmt in irgendeiner Patientenakte wiederfinden, den haben wir versehentlich mit weggeräumt. Ich werde noch mal die Akten von allen Patienten, die vorgestern hier waren, durchsehen. Und die Weinbrandbohnen hat Ihnen jemand geschenkt, das haben Sie nur vergessen, da bin ich mir ziemlich sicher.«
Sie überlegen beide. Der Arzt schöpft etwas Hoffnung. Vielleicht sieht er tatsächlich Gespenster.
»Aber der Schnaps in der Wasserflasche«, fällt ihm dann ein. »Das kann ja nun kein Zufall gewesen sein.«
»Nein, das war ein ziemlich übler Streich. Haben Sie denn keine Idee, wer Ihnen so etwas antun könnte? Haben Sie sich in letzter Zeit mit jemandem gestritten? Hat sich ein Patient beklagt?«
Dr. Moll zuckt hilflos mit den Schultern. »Ich weià es wirklich nicht. Darüber zerbreche ich mir seit Tagen den Kopf.«
Sie hören die AuÃentür klappen und die Schwester blickt auf ihre Uhr. Dann redet sie leise, aber schnell und energisch auf den Arzt ein. »Wir sollten abwarten. Wenn wir die Polizei einschalten, werden die Patienten verunsichert und es entstehen wieder Gerüchte. Sie kennen das doch, das haben wir schon einmal durch. Jetzt haben die Leute endlich wieder Vertrauen zu Ihnen, das sollten wir nicht zerstören. Seien Sie vorsichtig, Sie sind ja nun gewarnt. SchlieÃen Sie Ihr Auto ab, achten Sie auf Ihre Getränke. Hier in der Praxis passe ich schon auf und nachts ist die Alarmanlage an.«
Sie sieht ihn fragend an und er nickt zögernd. »Sie haben Recht, Marita. Wahrscheinlich war das mit dem Schnaps nur ein dummer Streich und ich bin in Panik geraten. Danke.«
Frank Sonnenberg sitzt auf einem Barhocker, nippt an seinem Glas und sieht zu, wie Sophie Bier zapft, Wasserflaschen öffnet und Gläser mit Saft füllt. Er stützt sich lässig am Bartresen ab, seine langen Beine reichen bis zum Boden. Als Anne hereinkommt, setzt er sich unwillkürlich ordentlich hin und blickt ihr abwartend entgegen, als erwarte er eine kritische Bemerkung. Aber Anne nickt ihm nur flüchtig zu und begrüÃt ihre Freundin. »Hab ich einen Hunger«, stöhnt sie. »Ich könnte ein ganzes Schwein verschlingen.«
Sonnenberg verschluckt wohlweislich eine Bemerkung, die ihm auf der Zunge liegt, während er beobachtet, wie sich Anne etwas mühselig auf den schmalen Barhocker hievt, der ihre ausladenden Proportionen ungünstig betont. Als ahne sie seine Gedanken, bedenkt sie ihn mit einem misstrauischen
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