Die Toten von Crowcross
verlieren , ihre Imperien. Das haben wir alle geglaubt, und jetzt meine ich nicht nur linke Protestierer wie Claire. Alle hatten Angst, aber nur einige waren so wütend. Man spürte es auf den Straßen, hörte es aus Gesprächen heraus, die man zufällig mitbekam; der allgegenwärtige Galgenhumor verriet es. Alle dachten, wir stünden kurz vor dem Weltuntergang. Ich trug nicht viel zu Claires Tirade bei, ich hörte ihr einfach zu und sah sie an. Im Pub hatte sie noch gelacht, aber jetzt schien sie den Tränen nahe.
»Verdammter Nigel«, sagte sie voller Wut. »Er kann dem nicht einfach so zustimmen. Das einfach allein entscheiden.«
»Was?«, fragte ich.
»Glaub mir, Martin, das willst du nicht wissen. Das ist interner Parteikram. Es geht um unsere Sicht auf politische Entscheidungen.«
Und plötzlich lächelte sie und wischte sich eine Strähne aus der Stirn, als wäre es ein lästiger Gedanke. »Lass uns reingehen.«
Ich holte den Schlüssel aus seinem Versteck unter den Steinen im Vorgarten, schloss auf und legte ihn leise wieder zurück. Seit wir ausgestiegen waren, hatten wir kein Wort mehr gesprochen. Gleich hinter der Tür war ein Lichtschalter, aber wir griffen beide nicht danach. Unendlich langsam schloss ich die Tür hinter uns, und dann standen wir auf der Fußmatte und sahen einander an. Ich meine, wir sahen einander wirklich, richtig an.
»Zu dir oder zu mir?«, flüsterte sie endlich und hätte beinahe angefangen zu kichern.
»Ich … ich …« Ich weiß, dass ich gestottert habe, und wahrscheinlich bin ich knallrot geworden, aber das ist ihr im Halbdunkel wohl nicht aufgefallen.
Sie legte mir eine Hand in den Nacken, zog mich zu sich heran und küsste mich auf den Mund, gab mir einen langen, intensiven Whiskykuss.
»Zu mir, würde ich sagen, Martin. Eindeutig zu mir.«
26
Kerr hatte genug Zeit, um sich gründlich in Ann Ledburys Reihenhaus in Wynarth umzusehen, bevor Jim Websters Leute auf der Bildfläche erschienen. Am Ende kamen nur zwei, mehr konnte Webster nicht aus Crowcross abziehen. Ihre Anwesenheit in dem Haus war, so kam es Kerr vor, kaum mehr als eine Formalität, ein So-tun-als-ob. Ann Ledbury hatte zwar keinen Abschiedsbrief hinterlassen, wenigstens nicht an den Stellen, die er vor den Spurensicherern problemlos inspizieren konnte, dennoch war er überzeugt, dass das, was er da gestört hatte, ein Selbstmordversuch gewesen war, ohne Beteiligung weiterer Personen. Die Schlinge war unbeholfen geknotet gewesen, und Ann Ledbury hatte nicht darüber nachgedacht, wie sie sich davon abhalten konnte, instinktiv gegen das Seil anzukämpfen, nachdem sie den kleinen Hocker zur Seite getreten hatte. Er hatte direkt unter ihren strampelnden Füßen gelegen.
Natürlich war Kerr so vorsichtig wie nur möglich und hatte unbenutzte Tatorthandschuhe angezogen. Ein Paar davon hatte er immer bei sich, genau wie das scharfe, unerlaubte Messer, mit dem er sie losgeschnitten hatte. Das Haus war ordentlich, aufgeräumt und ganz im klassischen Wynarth-Stil eingerichtet, mit vielen volkstümlichen Teppichen und Wandbehängen. In der Diele hing ein Plakat mit lächelnden tibetischen Mönchen, und im Wohnzimmer fand Kerr allen möglichen buddhistischen Krimskrams. Dank seiner verbotenen Stunden mit Rachel wusste er, wozu eine Mani, eine Gebetsmühle, diente, und auch, dass das, was da gerahmt über dem Sofa hing, ein Mandala war. Er widerstand der Versuchung, die Mani mit ein paar Drehungen in Bewegung zu setzen, um einige dringend benötigte Pluspunkte für sein nächstes Leben zu sammeln – nur für den Fall, dass an der Idee von der Wiedergeburt etwas dran war. Eigentlich wollte er nicht einmal daran denken, als was für ein Bulle er wohl wiedergeboren würde. In der Küche hingen ein paar Fotos von Ann Ledbury selbst. Zumindest glaubte er, dass sie es war – ihr Gesicht war eine verzerrte, lila Fratze gewesen, als er sie abgeschnitten und den Krankenwagen gerufen hatte. Auf einem der Fotos stand sie inmitten einer Gruppe von Leuten. Trekker offenbar. Das Bild war vermutlich im Himalaya aufgenommen worden, im Hintergrund sah man das Gepäck (und die Sherpas). Martin Grove war auf keinem der Bilder zu erkennen, aber auf dem Tisch lag der auf Seite fünf aufgeschlagene Independent. Kerr warf einen Blick auf die Schlagzeile: Opfer eines Justizirrtums bei Doppelmord erschossen , und las den ersten Absatz ẻ Neben der Zeitung standen ein leeres Glas und eine fast leere Flasche Bombay-Sapphire-Gin.
Er
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