Die Toten von Crowcross
nur so lange, wie die Sache nicht zu ungemütlich wurde. Einer nach dem anderen kehrten sie an ihre Uni und in ihren Job zurück, wenn sie denn einen hatten ế Das kalte Winterwetter half auch nicht gerade und dämpfte die Stimmung der Wochenendbesucher und Sympathisanten, die uns unterstützten. Samstags morgens konnte man auf das Freiheitsfeld hinausgehen und sah nichts als reifbedecktes Gras und Eiszapfen an den Hecken. Im Cottage, in der Küche und im Wohnzimmer, wo die Kamine nie ausgingen, war es einigermaßen warm. Überall sonst fuhr der Wind kalt durch die Ritzen und rüttelte an den uralten, kaum Schutz bietenden Fenstern. Claire hätte sich die nötigen Reparaturen ohne Weiteres leisten können, das weiß ich. Aber das hätte für uns alle etwas von der Romantik zerstört, vom Revolutionären, zu dem der Einbau moderner Doppelfenster und einer Zentralheizung nicht recht passen wollte.
Der Polizeieinsatz hatte noch weitere unangenehme Folgen. Sicher, die Anwohner hatten uns nie sonderlich gemocht und uns gern mit Travellern und Zigeunern in einen Topf geworfen, die in ihrer Gegend nicht willkommen waren, vor jenem Novembersonntag jedoch hatten sie uns das hauptsächlich dadurch spüren lassen, dass sie uns die kalte Schulter zeigten. Die Gespräche verstummten, wenn einer von uns in den Pub oder den Dorf laden kam (damals gab es noch einen Laden, unabhängig von der Tankstelle), aber immerhin bedienten sie uns und nahmen unser Geld. Jetzt wurden sie abweisender. Fast schien es, als fühlten sie sich durch die Polizeiaktion ermutigt, ihren aufgestauten Gefühlen und Vorurteilen Luft zu machen. In den Fenstern von Laden und Pub tauchten »Keine Protestierer«-Schilder auf, und in zwei aufeinanderfolgenden Nächten kurz nach Neujahr wurden wir vom Geräusch berstender Scheiben geweckt. Als wir nach draußen kamen, waren an einigen Autos die Windschutzscheiben zerschlagen und Reifen aufgeschlitzt, und wir hörten Leute davonlaufen.
Auf normalem Weg konnten wir dagegen nichts unternehmen. Wir hatten unseren Verdacht, wer damit zu tun haben konnte, aber keinen Beweis. Zur Polizei zu gehen war sowieso keine Lösung. Das Letzte, was wir wollten, war ein Trupp Schnüffler, der bei uns alles auf den Kopf stellte und nach »Beweisen« suchte, abgesehen davon, dass längst nicht klar war, ob sie uns nicht einfach auslachen würden, wenn wir mit unseren Beschwerden kamen. Also wählten wir (die typische Myrtle-Cottage-Lösung) ein Sicherheitskomitee, und die Empfehlung des gleich mitgewählten Komiteeleiters bestand darin, umschichtig Wache zu halten, immer vier Mann pro Nacht. Wir wappneten uns gegen die Kälte und bewaffneten uns mit starken Stablampen (die wir in Crowby kauften) und derben Holzknüppeln mit zurechtgeschnitzten spitzen Enden. Ich weiß noch, dass Andy gern von unserem »Stecken« sprach, was ihn offenbar an die »alten Zeiten« erinnerte. Er hatte von Nigel The World Turned Upside Down zu lesen bekommen, die alte Ballade gegen die repressive Politik Oliver Cromwells, und sah uns (wie es auch viele andere in den Friedenscamps überall im Land taten) als stolze Nachfahren eines radikalen Widerstands, der sich ewig weit zurückverfolgen ließ, über die Chartisten im 19. und Gerrard Winstanley im 17. Jahrhundert bis zu den Bauernaufständen im mittelalterlichen England. Und jetzt sind wir an der Reihe , Kumpel , sagte er einmal und füllte eine frische Ladung Reiswein ab . Auf Maggies Kopf auf gespießt auf einer Lanze. Prost.
Wir nahmen alles so ernst im Myrtle Cottage. Aber vielleicht auch nicht ernst genug. Wir variierten die Patrouillenzeiten für den Fall, dass jemand Informationen nach draußen gab, und stellten eine neue Regel auf: Keiner von uns durfte mehr allein nach Crowcross Village hinein. Nicht, dass danach ein großes Bedürfnis bestanden hätte. Unsere eigene Gesellschaft war uns ohnehin viel lieber als die der hochnäsigen Langweiler im Pub, und es war weitaus billiger, nach Crowby zu fahren und dort einzukaufen. Praktisch der einzige Grund, überhaupt mal ins Dorf zu gehen, war der Briefkasten dort (damals gab s keine E-Mail und keine SMS, lieber Leser), und auch damit waren nicht alle glücklich. Wir waren überzeugt, dass Briefe vom Staat abgefangen wurden, und manche meinten, wir sollten immer wechselnde, zufällig ausgesuchte Briefkästen benutzen, um den Schnüfflern die Arbeit möglichst zu erschweren. Ähnliches galt für Anrufe. Das Telefon im Cottage wurde nur für
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