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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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überzeugt. Ein Selbstmord mehr. Und er war sowohl erfahren als auch kompetent genug, um seinem Urteil trauen zu dürfen. Zwar hatten sie keinen Abschiedsbrief gefunden, aber das irritierte ihn nicht; das war sowieso von Mal zu Mal verschieden. Und außerdem stand eine gründliche Durchsuchung der Räume noch aus, und es war durchaus denkbar, daß sich noch etwas finden würde, was ihr Motiv erhellte. Seine diesbezügliche Hoffnung galt vor allem den beiden oberen Zimmern. Einen Punkt gab es allerdings doch, der ihn stutzig machte, einen einzigen Punkt. Er hatte ihn weder Walters noch dem Polizeiarzt gegenüber erwähnt und während der vergangenen Stunde, als es darum gegangen war, die bei einem mutmaßlichen Selbstmord üblichen Untersuchungen in Gang zu setzen, auch vor sich selbst jeden Gedanken daran verdrängt. Aber jetzt fühlte er sie wieder, diese leise bohrende Beunruhigung, denn es war in der Tat befremdlich und nur schwer vorstellbar: eine Frau steigt auf einen wackligen Küchenhocker und stößt ihn in der schrecklichen, unwiderruflichen Sekunde der Entscheidung von sich, doch der Hocker fällt nicht um, sondern steht, als man sie findet, aufrecht, zwei Yards (genau gesagt 1,72 m, er hatte selber nachgemessen) von ihrem linken Fuß entfernt, der leblos nur ein paar Zentimeter über dem rotweiß gefliesten Küchenboden schwebt. Und der Hocker war auch nicht etwa beim Aufdrücken der Tür weitergeschoben worden. Bell selbst hatte sich mit seiner breiten Schulter dagegengestemmt, weil sie klemmte, und wenn gleich hinter der Tür ein Hocker gestanden hätte, so hätte er das gemerkt. Doch hinter der Tür hatte nur die Leiche gehangen und bei ihrem Eindringen leise begonnen sich zu drehen. War das mit dem Hocker vielleicht nur eine dieser verrückten Unwahrscheinlichkeiten, die man nicht für möglich hält und die es nichtsdestotrotz immer wieder gibt? Wie dem auch sei, es machte eigentlich keinen Unterschied, denn Bell war nach wie vor der Überzeugung (und das Obduktionsergebnis am nächsten Morgen gab ihm darin recht), daß Ms Anne Scott gestorben war infolge von Asphyxie auf Grund von Erhängen. Und die am Tag darauf in der Oxford Mail erscheinende Meldung über ihren Tod endete dementsprechend mit dem Satz: »Die Polizei schließt ein Fremdverschulden aus.«
    »Kommen Sie«, sagte Bell und ging auf die schmale, teppichbelegte Treppe zu. »Aber fassen Sie nichts an, bevor ich es Ihnen sage. Wenn wir Glück haben, finden wir dort oben einen Abschiedsbrief oder irgendeine Notiz, die darauf hindeutet, was sie vorhatte. Das ist mir immer am liebsten; ich habe alles gerne klar und zweifelsfrei, damit ich einen Fall beruhigt ad acta legen kann.«
    Bells Hoffnungen sollten sich jedoch nicht erfüllen. Ein Abschiedsbrief fand sich nicht an. Und doch hatte Anne Scott an ihrem letzten Abend zumindest noch einen Brief geschrieben, aber dieser Brief war, als Bell mit seinen Ermittlungen begann, dem Empfänger längst überbracht worden …
     
    Im Haus Canal Reach Nr. 10 stand George Jackson noch immer an einem der Fenster des oberen Stockwerks hinter der Gardine und beobachtete das Haus gegenüber. Er war ein älterer Mann, sechsundsechzig, um genau zu sein, hager und nicht besonders groß, mit scharfen Gesichtszügen und trüben, wäßrig blauen Altmänneraugen. Zweiundvierzig Jahre lang hatte er in Lucy’s Eisengießerei in der nahe gelegenen Juxon Street gearbeitet. Doch vor einigen Jahren, als die Aufträge immer weniger wurden und es auch nicht so aussah, als ob sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern würde, hatte ihm die Firma eine relativ großzügige Abfindung angeboten, und er hatte sich vorzeitig pensionieren lassen und war in das Reihenhaus in Canal Reach gezogen. Er hatte in der Nachbarschaft ein paar Bekannte, darunter einen oder zwei frühere Arbeitskollegen, besaß aber keine wirklichen Freunde. Er hätte auch schlecht zur Freundschaft getaugt, denn es schien ihm bei allem, was er sagte und tat, immer nur um seine eigenen, oftmals eher schäbigen Interessen zu gehen, und seine Haltung gegenüber seinen Mitmenschen war geprägt durch eine gewisse höhnische Gehässigkeit. Dennoch hielten die Leute in der Umgebung zu ihm einen oberflächlichen Kontakt, weil er geschickte Hände hatte und sie sich dadurch, daß sie bei Reparaturen auf ihn zurückkommen konnten, nicht mit irgendwelchen Handwerkern herumzuärgern brauchten. Zwar ließ er sich seine Arbeit jedesmal teuer bezahlen, dafür war er

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