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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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gleichgültig und nichtsahnend in ihren Autos die Brücke passierten, hing unter der Brücke der Held (Held?), mit immer schwächer werdenden Händen die Geländerstangen umfassend, entschlossen und dazu verurteilt, seinem Leben durch Selbstmord ein Ende zu setzen. Edward hatte plötzlich eine Idee, worauf das ›geradezu‹ abzielen mochte. Er machte sich am Rand eine Notiz und klappte das Buch zu. Ein weißer Umschlag (mit dem kurzen Brief noch darin) markierte die Stelle, wo im Anschluß an die Erzählung die Anmerkungen begannen. Er lehnte den Band gegen einen Stapel Bücher auf seinem Nachttisch und löschte das Licht. Dann lag er, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, mit offenen Augen im Dunkeln und begann zu träumen … Der Mittelpunkt des Traumes war sie – Anne Scott. Michael, der der ältere von ihnen beiden war, kannte sie länger und besser und hatte des öfteren Andeutungen fallenlassen, daß er und Anne … Er hatte nie so recht gewußt, was er davon halten sollte, bei Michael konnte man schon, als er noch klein war, Wunsch und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Aber seit letztem Mittwoch war er fast geneigt, ihm zu glauben. Und wie in den Nächten zuvor begann er, sich den Nachmittag vor einer Woche wieder in allen Einzelheiten in Erinnerung zu rufen, um noch einmal jenen aufregenden Moment zu durchleben, als sie …
    Er hatte am letzten Mittwoch zunächst vor verschlossener Tür gestanden. Das war ungewöhnlich, sie sperrte sonst nie ab. Da es keine Klingel gab, hatte er geklopft. Zuerst zaghaft, dann kräftiger. Als sich endlich drinnen etwas rührte, hatte er erleichtert aufgeseufzt. Gleich danach hörte er, wie der Schlüssel ins Schloß gesteckt und mit metallischem Klicken umgedreht wurde. Und dann stand sie vor ihm.
    »Edward! Du bist es! Komm doch herein. Ich habe völlig die Zeit verschlafen.« Ihre Haare, die sie normalerweise hochgesteckt trug, hingen ihr offen auf die Schultern. Sie hatte einen gestreiften Morgenmantel an, dessen gedeckte Farben ihn an das Gewand einer ägyptischen Königin erinnerten, das er irgendwo einmal ausgestellt gesehen hatte. Aber vor allem ihr Gesicht hatte es ihm angetan. Sie lächelte, nein strahlte, als ob sie voller Erwartung sei und sich riesig freue, ihn zu sehen. Ihn! Mit einer flüchtigen Bewegung ordnete sie sich das Haar, dann trat sie zurück, um ihn einzulassen.
    »Du kannst gleich mit nach oben kommen. Ich brauche nicht lange.« Sie hakte sich leicht bei ihm ein und führte ihn die Treppe hinauf in das hintere Zimmer, das sie als »mein Arbeitszimmer« bezeichnete. Sie ließ ihn während des Unterrichts immer an ihrem Schreibtisch sitzen. Meistens gab sie ihm einen deutschen Text in die Hand, und er rackerte sich eifrig ab – für sie, denn sie saß an seiner Seite, und er wollte, daß sie mit ihm zufrieden war. Sie kam mit ins Zimmer, um das elektrische Öfchen anzustellen, und als sie sich herunterbeugte, um den Schalter zu betätigen, öffnete sich der Ausschnitt ihres Morgenmantels, und er sah, daß sie darunter nackt war. Der kurze Moment reichte aus, um ihn in einen Taumel erotischer Phantasien zu versetzen. Sie richtete sich wieder auf und ging hinüber ins andere Zimmer, um sich anzuziehen.
    Eine oder zwei Minuten später rief sie nach ihm.
    »Edward? Edward?«
    Er ging hinüber. Ihre Schlafzimmertür war offen, aber er blieb befangen auf der Schwelle stehen.
    »Komm doch richtig rein! Oder hast du Angst, daß ich dich beiße?«
    Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Fuß eines breiten Doppelbettes und war dabei, sich den Verschluß ihres hellgrauen Rockes zuzuhaken. Der Rock war am Saum etwas eingerissen. Dieser eingerissene Saum war merkwürdigerweise immer das erste, was er vor sich sah, wenn er in späteren Jahren an diese Szene zurückdachte. Und er dachte oft daran zurück: wie sie dagestanden hatte, die Hände in Taillenhöhe, um den Reißverschluß zuzumachen und den Rock zurechtzuziehen, vor allem aber, wie sie sich dann halb zu ihm umgewandt hatte, so daß er ihre Brüste hatte sehen können, denn sie hatte nichts als den Rock angehabt.
    »Bist du so lieb und springst schnell runter in die Küche? Unten über dem Wäschetrockner hängt noch mein BH; ich habe ihn gestern abend gewaschen. Bringst du ihn mir hoch?«
    Er ging wie schlafwandelnd die Treppe hinunter und hörte kaum, daß sie ihm von oben hinterherrief: »Den schwarzen!« Als er zurückkam, drehte sie sich ganz zu ihm herum. Sie trug noch immer nicht mehr als ihren Rock.
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