Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
mit seinen Gedanken weit weg zu sein. »Conrad?« wiederholte er fragend, als wisse er nicht, von wem sie spreche.
    »Nun, er ist schließlich dein Partner in eurem euch so teuren Verlag, da sollte man doch meinen, daß er …«
    »Ach, Conrad! Entschuldige, mein Schatz, ich bin heute ziemlich erledigt. Conrad geht’s gut. Ich soll dich, wie immer, von ihm grüßen. Die Reise hat ihm Spaß gemacht, sagt er, aber wir haben uns schon mittags getrennt – ich hatte da noch eine … äh, heikle Angelegenheit zu erledigen. Der Vertrag mit den Schweden. Du erinnerst dich doch, ich habe dir davon erzählt.«
    Celia nickte unbestimmt und schwieg. Das kurze Glücksgefühl von eben hatte sich bereits wieder verflüchtigt, und sie sank kraftlos in den Sessel zurück, den Blick ins Leere gerichtet, um den Mund einen bitteren Zug von Resignation – eine reiche, elegante, anziehende Frau, die alles hatte und doch von Tag zu Tag mehr erdrückt wurde von dem Gefühl, das Leben entgleite ihr langsam. Sie wußte, daß Charles ihr in den letzten Jahren oft untreu gewesen war; sie besaß eine Art sechsten Sinn dafür, er konnte es nicht vor ihr verheimlichen. War er heute nachmittag auch wieder …? Oh, lieber Gott, oder bildete sie sich das in ihrer Angst nur ein? Die Gefühle von Zweifel, Schmerz und Ohnmacht waren einen Augenblick lang so übermächtig, daß ihr fast übel wurde. Und das schlimmste war, sie selbst trug die Schuld daran, daß es ihn immer wieder zu anderen Frauen zog. Sie empfand keine Lust dabei, wenn sie miteinander schliefen; die körperliche Seite der Liebe war ihr immer fremd geblieben. Vielleicht hing es damit zusammen, daß sie nie daran gedacht hatten, Kinder zu bekommen. Und jetzt war es vermutlich dafür ohnehin zu spät – sie wurde dieses Jahr achtunddreißig.
    Charles hatte seinen Whisky ausgetrunken, und sie ging hinaus, um das Hühnchen zu holen. Als sie die Küche betrat, fiel ihr Blick auf seinen schwarzen Schirm, der aufgespannt vor der Tür zum Garten stand. Er war bestimmt schon trocken; sie würde ihn gleich jetzt in den Wagen zurücktun (Charles liebte es, wenn die Dinge an ihrem Platz lagen). Sie klappte den Schirm zu, ging hinaus in die Garage, knipste dort das Licht an, öffnete eine der hinteren Türen des Rolls und legte den Schirm auf die Ablage vor dem Rückfenster.
    Es war schon fast halb acht, als sie mit dem Essen fertig waren. Celia hatte die ganze Mahlzeit über kein einziges Wort gesprochen. Sie hatte fieberhaft überlegt. Und nach und nach hatten sich ihre Gedanken auf eine bestimmte Person konzentriert: auf Conrad Richards, ihren Schwager.
     
    Eine knappe Stunde später war auf dem Revier Mitte der anonyme Anruf eingegangen, der die Polizei darüber informiert hatte, daß sie in der Küche eines Hauses in Jericho eine Tote finden werde.
     

Kapitel Vier
     
    Ich leg mich nieder und schlummre,
    Erwach jeden Morgen neu.
    Wes ist der nachtlange Atem,
    Der mich am Leben erhält?
    A. E. Housman, More Poems
     
    In den frühen Nachtstunden, zur selben Zeit, als Bell und Walters in Anne Scotts Haus nach ihrem Abschiedsbrief suchten, saß Edward, der jüngere der beiden Murdoch-Brüder, das Kopfkissen im Rücken, in seinem Bett, vor sich auf den Knien ein aufgeschlagenes Buch – Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Edward beherrschte die deutsche Sprache mehr schlecht als recht und hatte in der Vergangenheit wenig Interesse gezeigt, sich gründlicher mit ihr zu beschäftigen. Doch dann, im letzten Sommer, hatte es jemand unternommen, ihm die Augen für ihre Schönheiten zu öffnen und es vermocht, ihn zu begeistern. Es war eine Frau, der dies gelungen war – Ms Anne Scott. Edward hatte einen Teil des Abends damit zugebracht, sich in Formulierungen für den von ihm geplanten Essay über Kafkas Kurzgeschichte Das Urteil zu üben. Doch irgendwann hatte er gemerkt, daß er sich den Text noch einmal genau würde ansehen müssen, bevor er mit dem Schreiben anfangen konnte. Gerade eben war er mit seiner Lektüre fertig geworden, doch seine Augen verweilten beim letzten Satz, um ihn noch weiter auf sich wirken zu lassen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr. In Gedanken übersetzte er die ihm inzwischen vertrauten Worte ins Englische: In this moment there went across the bridge a (das ›geradezu‹ bereitete ihm Schwierigkeiten, und er ließ es erst einmal aus) continuous flow of traffic. Wow! Was für ein Satz! Denn während oben die Menschen

Weitere Kostenlose Bücher