Die Toten Von Jericho
Schwierigkeiten gehabt? Eine Krankheit? Geldsorgen? Sexuelle Probleme? Ärger mit der Familie? Und die Antwort hätte vermutlich in der Mehrzahl der Fälle ›ja‹ lauten müssen. Ja, ja, ja. Doch die Verwandten, Freunde, früheren Kollegen würden bedrückt und voller Schuldgefühle vor dem Coroner stehen und alle diese Fragen verneinen, ohne sich einer Lüge bewußt zu sein, weil sie die Tote noch im nachhinein vor der Wahrheit verschonen wollten. Und sich selbst auch. Bell seufzte deprimiert. Letztlich war die Frage, warum sich jemand umgebracht hatte, ohnehin sinnlos, denn keine Antwort, und käme sie der Wahrheit noch so nahe, würde das Geschehene rückgängig machen können. Was Bell wirklich bewegte, war denn auch eher die Überlegung, wie viele es schafften, trotz großer Belastungen von Tag zu Tag weiterzuleben. Irgendwie … Er stand auf und nahm seinen Mantel vom Haken hinter der Tür.
»Wissen Sie schon, wer ›E. M.‹ ist?«
»Nein, Sir, leider noch nicht«, antwortete Walters geknickt. Was er herausgefunden hatte, war, daß Anne Scott offenbar einer Reihe von Jugendlichen bei sich zu Hause Privatunterricht gegeben hatte. Soweit er hatte feststellen können, existierten über diese Tätigkeit jedoch keinerlei schriftliche Belege. Weder hatte sie eine Liste mit den Namen der Schüler geführt noch Rechnungen ausgestellt oder Schecks in Empfang genommen. Allem Anschein nach war sie jeweils gleich am Ende der Stunde bar bezahlt worden. Vermutlich hatte sie diese Einnahmen auch nie versteuert. Die Nachbarn hatten registriert, daß eine Reihe junger Leute bei ihr ein und aus gegangen waren; sie seien meist mit dem Fahrrad gekommen und hätten Bücher dabeigehabt. Diese Besuche waren aber wohl nicht regelmäßig gewesen, die Gesichter hatten ständig gewechselt, und keiner der von ihm Befragten war in der Lage, auch nur einen ihrer Schüler näher zu beschreiben, geschweige denn ihm einen Namen zu nennen. Sein Pech. Er bekam allmählich eine Vorstellung davon, welche Unmenge von Arbeit mit der Ermittlung selbst banalster Details verbunden war, und begann einzusehen, daß einfach nicht genug Zeit war, um wirklich jedem Hinweis nachzugehen. Trotzdem wurmte es ihn, daß es ihm nicht gelungen war, den Initialen (wenn es überhaupt welche waren) einen Namen zuzuordnen.
Bell hatte ihn beobachtet und lächelte ihm jetzt verständnisvoll zu.
»Kein Grund, den Kopf hängenzulassen, Walters. ›E. M.‹ ist ohnehin mit ziemlicher Sicherheit völlig unwichtig. Es wäre etwas anderes, wenn wir in einer Mordsache ermittelten, aber die Geschichte in Canal Reach war ja eindeutig Selbstmord. Wie sie da hing – das war echt, so etwas läßt sich nicht arrangieren. Und wenn ich das sage, dann dürfen Sie mir das ruhig abnehmen, ich bin schon zwanzig Jahre dabei, und wenn Sie wüßten, wie viele Selbstmorde ich in der Zeit schon gesehen habe … Worum wir uns kümmern müssen, ist allein das Motiv. Die gerichtliche Untersuchung wird uns vermutlich etwas Aufschluß darüber geben, aber machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen – wir werden nie mit absoluter Sicherheit sagen können, warum sie es getan hat. So ein Entschluß, sich das Leben zu nehmen, baut sich ganz allmählich auf und geht meist auf ein ganzes Bündel von Ursachen zurück. Enttäuschungen, Sorgen, schließlich das Gefühl, daß es schrecklich anstrengend ist, sich immer wieder zusammenzureißen. Und dann irgendwann der Punkt, wo man sich fragt, was zwingt mich eigentlich dazu? Es wäre doch viel einfacher, wenn ich dem allen ein Ende machen würde.« Bell zog sich den Mantel über und öffnete die Tür. »Und jetzt kommen Sie mir bloß nicht, das Leben sei ein Geschenk und heilig und niemand habe das Recht, es wegzuwerfen … Das ist nämlich einfach nicht wahr. Tagtäglich werden in den Abtreibungskliniken Hunderte von Ungeborenen einfach in den Mülleimer geschmissen, und in jeder Sekunde – machen Sie sich mal klar, was das bedeutet! – stirbt irgendwo auf der Welt ein Mensch an Hunger. Und dann die Flutkatastrophen und Erdbeben und Seuchen und Flugzeugabstürze und die Folter und die Erschießungen und die Kriege … Ich finde, da braucht man sich gar nicht zu wundern, daß ab und zu jemand zu dem Entschluß kommt, sich etwas früher vom Leben zu verabschieden, weil es so viel ohnehin nicht zu verpassen gebe … Ihre Selbstmörderin in Canal Reach war vielleicht eine von denen, die besonders viel wollte, die mit hohem Einsatz gespielt und verloren
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