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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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Mit einem Lächeln des Dankes nahm sie ihm den BH ab und bemerkte erst in diesem Moment, daß er sie wie hypnotisiert anstarrte.
    »Entschuldige, Edward. Bin ich etwa die erste Frau, die du so siehst? Geh schon mal vor ins andere Zimmer, ich komme gleich nach; ich will mir nur noch die Haare hochstecken.«
    Die nächste Dreiviertelstunde hatte er sich tapfer geschlagen: Er hatte mit aller Kraft dagegen angekämpft, weiter an sie zu denken, und sich gleichzeitig so heftig wie selten zuvor bemüht, den Text, den sie ihm vorgelegt hatte, zu verstehen. Es war Kafkas Erzählung ›Das Urteil‹ gewesen. Den letzten, so unerbittlichen wie schrecklichen Satz hatte sie ihm laut vorgelesen. Er hatte den Ton ihrer Stimme noch im Ohr …
     
    Er drehte sich auf die Seite und dachte daran, daß der zurückliegende Tag für ihn mit einer großen Enttäuschung begonnen hatte. Er war am Morgen als erster aufgewesen, hatte sich Teewasser aufgesetzt, Weißbrot in den Toaster gesteckt und das Radio angemacht. Gegen zwanzig nach sieben hatte er das Klappern gehört, als der Zeitungsbote die Times durch den Briefschlitz gesteckt hatte. Als er hinausgegangen war, um sie zu holen, hatte er auf der Türmatte den schmalen weißen Umschlag liegen sehen. Es war eigentlich noch zu früh für die Post, und als er den Brief aufgehoben und umgedreht hatte, hatte er gesehen, daß er nicht frankiert war. Er war an ihn adressiert. Mit etwas zittriger Hand hatte er ihn geöffnet und die wenigen Zeilen gleich überflogen.
    Auf den Ellenbogen gestützt, richtete er sich halb auf, knipste die Nachttischlampe an, zog den Brief aus dem Buch und las noch einmal, was sie ihm geschrieben hatte.
     
    Lieber Edward,
    es tut mir leid, aber unsere gewohnte Stunde muß heute ausfallen. Lies weiter Kafka – du wirst merken, was für ein großer Schriftsteller er war. Alles Gute für Dich!
    Deine Anne (Scott)
     
    Er hatte sie nie ›Anne‹, sondern immer nur ›Miss Scott‹ genannt; Das ›Miss‹ geriet ihm dabei häufig zu prononciert, was daran lag, daß er es, mehr unbewußt als bewußt, absetzen wollte gegen die Anrede ›Mrs‹, die er affektiert fand und schon rein vom Klang her ablehnte. Sollte er nächste Woche einfach mal etwas riskieren und sie mit ihrem Vornamen ansprechen? Nächste Woche … bis dahin war es noch lang.
    Er löschte das Licht und schlief bald darauf ein.
     
    Morse wachte am nächsten Morgen gegen Viertel nach sieben auf. Er fühlte sich verspannt und zerschlagen. Eine halbe Stunde später beim Rasieren verzog er den Mund zu einem bitter-geringschätzigen Grinsen, nickte seinem Spiegelbild zu und sagte leise: »Dreckskerl!« Plötzlich fiel ihm ein, daß er gestern abend seinen Wagen auf dem Hof des Clarendon Institute hatte stehenlassen, und ausgerechnet heute morgen mußte er schon um neun Uhr in Banbury sein. Da gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder er nahm den Bus oder rief Lewis an.
    Die Entscheidung fiel ihm nicht besonders schwer.
    Zu seinem großen Ärger mußte Morse, als er und der Sergeant am Clarendon Institute eintrafen, feststellen, daß man ihm einen Zettel an die Windschutzscheibe geklebt hatte, und zwar – offenbar mit voller Absicht – gerade so, daß er ihm beim Fahren die Sicht versperren würde. Es war eine mehr oder minder offizielle Mitteilung, unterzeichnet ›Oxford University Press. Die Verlagsleitung‹.
     
    Dieser Hof ist Privatgelände, Fremden ist das Abstellen ihres Fahrzeugs untersagt. Wir fordern Sie deshalb auf, Ihren Wagen unverzüglich zu entfernen. Das Kennzeichen ist notiert worden, und die Delegierten der Oxford University Press werden, sollten Sie noch einmal widerrechtlich hier parken, umgehend Klage gegen Sie einreichen.
     
    Die mühselige Arbeit, den Zettel abzukratzen, fiel natürlich Lewis zu, der Morses halbherziges Angebot zu helfen gleich abgelehnt hatte, wohl weil er wußte, was davon zu halten war.
     

Kapitel Fünf
     
    Die meisten Menschen führen ein Leben
    voll stiller Verzweiflung.
    Henry David Thoreau
     
    Detective Constable Walters war beeindruckt von der Umsicht und Überlegtheit, mit der Bell die Untersuchung anging. Die grausige Prozedur der Abnahme der Leiche war von ihm mit einer ruhigen Zurückhaltung, gleichwohl Autorität geleitet worden, die ihr so etwas wie Würde gab, und anschließend hatte er mit einer Kompetenz, wie sie nur aus langer Erfahrung erwächst, die notwendigen Maßnahmen für die spätere Obduktion und die gerichtliche Untersuchung der
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