Die Toten Von Jericho
neunzehn, er zwanzig. Fast unmittelbar darauf, es war der Anfang der langen Sommersemesterferien, hatten die beiden Oxford verlassen. Sie hatten niemandem erzählt, was sie vorhatten. Nach dreieinhalb Monaten war Anne allein zurückgekehrt und hatte erklärt, daß sie und John sich in beiderseitigem Einvernehmen getrennt hätten. Darüber, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, ließen sich nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich hatten sie sich zunächst auf die Suche nach einem Arzt begeben, der bereit war, in irgendeiner Hinterhofpraxis die illegale Abtreibung vorzunehmen; danach, so konnte man sich vorstellen, waren Wochen voller Niedergeschlagenheit und Selbstvorwürfe, wechselseitiger Gereiztheit, Streit und Versöhnung gefolgt, bis sie schließlich irgendwann zu der Einsicht gekommen sein mochten, daß sie nicht zueinander paßten. Anne hatte in den folgenden Jahren ihr Studium abgeschlossen und beruflich Karriere gemacht. Ganz anders dagegen das Leben von John Westerby. Er war in einem Heim aufgewachsen, hatte danach jedoch offenbar Anstrengungen unternommen, seine triste Kindheit und Jugend hinter sich zu lassen, sich um einen Studienplatz in Oxford bemüht und angefangen, Geographie zu studieren. Doch nach dem Scheitern seiner Ehe hatte er das Studium an den Nagel gehängt. Eine Zeitlang hatte er mit Gebrauchtwagen gehandelt, war auch als Versicherungsvertreter herumgezogen. Das Geld, das er verdiente, hatte gerade gereicht, um sich in der Gegend um die Cowley Road ein schäbiges Zimmer als Untermieter zu leisten. Seine Zimmerwirtin wußte nur Gutes über ihn zu berichten, überhaupt schienen die Frauen ihn gemocht zu haben. Wenn er Geld hatte, so hatte er großzügige Geschenke gemacht – das war seine Art gewesen, Freundschaft zu zeigen. Doch er hatte niemanden wirklich an sich herangelassen, war, was persönliche Dinge anging, verschlossen gewesen und unberechenbar in seinen Launen. Zwei frühere Arbeitgeber hatten ihn übereinstimmend als antriebslos beschrieben und noch im nachhinein seinen mangelnden Ehrgeiz beklagt. Ob die verschiedenen Äußerungen, die Walters zusammengetragen hatte, ihm wirklich gerecht wurden, war nicht mehr zu entscheiden, denn John Westerby selbst konnte dazu nicht mehr gehört werden, da er nicht mehr lebte. Er war vor etwas über einem Jahr auf der Straße von Oxford nach Bicester mit seinem Wagen frontal auf ein entgegenkommendes Fahrzeug geprallt. Obwohl die Autopsie ergab, daß er mehr getrunken hatte als zulässig, hatte es sich offenbar um einen jener Unfälle gehandelt, bei denen eine eindeutige Schuldzuweisung nicht möglich ist. Aber während der Fahrer des anderen Wagens, ein sehr junger Mann, der noch Anfänger war, den Sicherheitsgurt angelegt und so überlebt hatte, war Westerby unangeschnallt gefahren. Er war mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe gegangen und sofort tot gewesen.
»Fassen Sie das alles in einem Bericht zusammen, und tippen Sie es ab«, sagte Bell. »Es wird ihn vermutlich niemand lesen, aber wenigstens haben wir unsere Pflicht getan.«
Bell hatte einen arbeitsreichen Tag vor sich. Während der vergangenen Nacht hatte es zwei schwere Einbrüche gegeben; einer davon in Nord-Oxford. Dort waren unbekannte Täter in eine Großhandlung eingestiegen und hatten sie fast vollständig ausgeräumt. Heute morgen würde er sich nicht mehr darum kümmern können, denn schon in einer halben Stunde mußte er auf dem Gericht sein, wo er als Zeuge geladen war, und um ein Uhr hatte er eine Verabredung mit dem Präsidenten von Oxford United, um mit ihm bei einem Mittagessen zu besprechen, wie gegen den immer wieder aufflammenden Vandalismus der jugendlichen Fans, die meinten, ihren Club durch gewalttätige Aktionen außerhalb des Fußballstadions unterstützen zu müssen, effektiver vorzugehen sei. Außerdem waren in der letzten Woche eine ganze Menge Akten liegengeblieben, die er dringend aufarbeiten mußte. Angesichts dieser Belastung verbot sich eine eingehende Untersuchung des Selbstmords fast von selbst. Zudem empfand Bell gegenüber Selbstmördern eine Art scheuer Ehrfurcht und war der Meinung, daß sie, falls sie das vorzogen, ein Recht darauf hatten, ihre Motive für sich zu behalten. Doch das war seine Privatansicht. Als Polizeibeamter hatte er an die gerichtliche Untersuchung zu denken. Und da spielte das Warum eine zentrale Rolle. Auch diesmal würden unweigerlich wieder dieselben Fragen gestellt werden: Hatte sie in letzter Zeit besondere
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