Die Toten Von Jericho
Todesursache angeordnet. Für Walters, der ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, stand nach ein paar Stunden fest, daß er sich Bell zum Vorbild nehmen würde.
Bei der Durchsuchung der beiden oberen Räume hatte Bell eine in Walters’ Augen geradezu bewunderungswürdige Fähigkeit an den Tag gelegt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Sie hatten sich zunächst das Schlafzimmer vorgenommen. Es machte einen aufgeräumten und übersichtlichen Eindruck. Das Bett war gemacht, es lag nichts herum, und nach einem kurzen Blick in die Schubladen ihrer Frisiertoilette und in ihren Kleiderschrank hatte Bell entschieden, daß sie sich hier weitere Mühen sparen konnten. Im hinteren Raum hatte er sich mehr Zeit gelassen. In der rechten Schreibtischhälfte waren sie auf eine Unmenge von Briefen gestoßen, grob sortiert und zum größten Teil gebündelt. Das erste dieser Bündel umfaßte die Kontoauszüge der letzten zwei Jahre, Zahlbelege über die Hypothekenraten für das Haus sowie Stromrechnungen. Es war mit einem dicken Bindfaden verschnürt, der für ein schweres Paket geeigneter gewesen wäre.
»Hieraus hat sie sich den Strick geknüpft«, hatte Bell gesagt, war mit dem Zeigefinger unter den Bindfaden gefahren und hatte ihn leicht angehoben.
Ein Teil der Briefe lag in losen Stapeln; sie mußte die Verschnürung abgestreift haben, denn die geknoteten Schlaufen lagen noch daneben. Vielleicht hatte sie die Briefe vor ihrem Tod noch einmal durchgesehen, vielleicht einige von ihnen noch ein letztes Mal lesen wollen. Bell hatte fast eine Stunde gebraucht, sie zu sichten, schließlich hatte er sie jedoch alle wieder zurückgepackt. Dann war die Mittelschublade des Schreibtisches an die Reihe gekommen. Sie enthielt einen Brief ihrer Mutter, der vor nicht allzulanger Zeit in Burnley aufgegeben worden war, ein Adressenbüchlein und zwei Notizkalender – einen für das zurückliegende und einen für das laufende Jahr. Bell hatte das Adressenbüchlein Seite für Seite langsam durchgeblättert, aber anscheinend war keiner der dort aufgeführten Namen von besonderem Interesse, denn er hatte es wieder beiseite gelegt. Den neueren Notizkalender allerdings hatte er weiterer Beachtung für wert gefunden und ihn Walters aufgeschlagen über den Schreibtisch zugeschoben.
»Dem sollten wir nachgehen, mein Junge. Könnte hilfreich sein.«
Unter dem Datum des 2. Oktober stand eingetragen: ›Summertown Bridge Club 8 Uhr‹; für den folgenden Tag, Mittwoch, den 3. Oktober, hatte sie notiert: ›E. M. 2.30 Uhr‹. Das war der Tag, an dem sie sich erhängt hatte.
Als Walters dem Chief Inspector einen Tag später Bericht erstattete, hatte er das Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Bell war derselben Ansicht und sprach ihm ein Lob aus. Sie hatten jetzt eine klare Vorstellung von Anne Scotts Lebensgeschichte – jedenfalls, was die äußeren Daten anging.
Sie war das einzige Kind des Reverend Thomas Enoch Scott, der als Geistlicher in einer Baptistengemeinde gewirkt hatte, und dessen Frau Grace Emily Scott. Thomas Enoch Scott war vor dreieinhalb Jahren verstorben; seine Witwe war nach seinem Tod nach Burnley gezogen. Zum Zeitpunkt von Annes Geburt und während ihrer Kindheit hatte die Familie in Rochdale gelebt. Anne hatte das dortige Gymnasium besucht. Sie war eine hervorragende Schülerin gewesen und hatte schließlich sogar ein Stipendium für die Lady Margaret Hall in Oxford bekommen und dort angefangen, Neuere Fremdsprachen zu studieren. Doch dann gab es in diesem bis dahin so geradlinigen Lebenslauf plötzlich einen Knick. Anne hatte einen jungen Mann kennengelernt, einen gewissen John Westerby, der wie sie in Oxford studierte. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt und war mit ihm ins Bett gegangen – und zwar offenbar ohne vorher geeignete Verhütungsmaßnahmen getroffen zu haben. Sie war schwanger geworden. Hochwürden Scott, aufs tiefste verletzt durch diesen unverzeihlichen Schritt vom rechten Weg, hatte ihr jeden Beistand versagt und bis zu seinem Tod unnachgiebig auf seinem Entschluß beharrt, die Tochter niemals wiedersehen zu wollen. Am Tage seines Begräbnisses war Anne zum erstenmal wieder zu Hause gewesen; in den Jahren danach hatten sie und ihre Mutter in regelmäßigem Briefwechsel gestanden, in größeren Abständen war sie auch nach Burnley gefahren, um sie zu besuchen. Anne und John Westerby hatten sich, nachdem Anne durch ihren Vater verstoßen worden war, standesamtlich trauen lassen. Sie war
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