Die Toten Von Jericho
Taschenkalendern, die er sich völlig unrechtmäßigerweise und mit einer gehörigen Portion Chuzpe an Land gezogen hatte. Da Anne Scott offenbar kein Tagebuch geführt hatte und auch keine Briefe existierten, die Aufschluß über ihr Leben hätten geben können, waren diese beiden schmalen Büchlein vermutlich die einzige Möglichkeit, eine Vorstellung – wie vage auch immer – davon zu bekommen, was sie in den letzten beiden Jahren getan hatte. Sehr aufschlußreich waren die Eintragungen allerdings wirklich nicht. Es handelte sich fast ausschließlich um Daten von Einladungen und Termine von Unterrichtsstunden – vorausgesetzt, er hatte recht mit seiner Annahme, daß sich hinter den Initialen, die neben den Uhrzeiten eingetragen waren, tatsächlich Schüler verbargen. Ein paar schienen über einen Zeitraum von mehreren Monaten regelmäßig gekommen zu sein; einige wenige sogar noch länger. Am Mittwoch, dem Tag ihres Selbstmords, hatte sie eine Verabredung mit einem gewissen ›E. M.‹ gehabt. Morse hätte gern gewußt, für welchen Namen die Buchstaben standen, und konnte sich lebhaft vorstellen, zu welchen Vermutungen sie bei Bell und Walters geführt hatten. Er konnte es ihnen nicht einmal übelnehmen; denn auch ihm selbst fiel bei ›E. M.‹ erst einmal nur sein eigener Name ein. Leider. Auf diese Art wurde er einmal mehr an seinen gräßlichen Vornamen erinnert, den er seit seiner Kindheit mit Inbrunst verabscheute und dessentwegen er seinen Eltern, obwohl ihr Mißgriff nun ein halbes Jahrhundert zurücklag, noch immer gram war.
Irgendwann legte er die Kalender zur Seite und ging zu Bett. Er schlief ruhig und tief und wachte erst spät auf. Mit frischem Elan begann er, die bekannten Fakten noch einmal Revue passieren zu lassen, und versuchte sich in Zuordnungen und Erklärungen. Die sich leider alle als falsch erweisen sollten.
Kapitel Vierzehn
Chaos ging dem Kosmos voraus;
und in ein Chaos ohne Form
und ohne Leere sind wir wieder gestürzt.
John Livingstone Lowes, The Road to Xanadu
Am Montag ging Morse seinen dienstlichen Pflichten nur der Form halber nach und war froh, als er das Präsidium am frühen Nachmittag verlassen konnte, um sich endlich wieder der selbstgestellten Aufgabe, gewisse Unstimmigkeiten beim Tode Anne Scotts aufzuklären, widmen zu können. Mrs Gwendola Briggs war sich, kaum daß sie ihm gegenübersaß, darüber im klaren, daß der Chief Inspector von anderem Kaliber war als der höfliche, etwas unsichere junge Constable, der sie vor zehn Tagen aufgesucht hatte. Dieser Mann hier gab sich nicht die geringste Mühe, höflich zu erscheinen, war ruppig und kurz angebunden, und er stellte seine Fragen auf eine Art, die den Gedanken an ein Verhör nahelegte. Wer war an jenem Abend noch dagewesen? Wo hatten die einzelnen Spieler gesessen? Worüber hatte man sich unterhalten? Hatte es Absagen gegeben, oder war irgend jemand erst in letzter Minute erschienen? Hatte sie die Blätter mit den Ergebnissen noch? Um welche Zeit war Schluß gewesen? Wo hatten die Autos gestanden? Wie viele der Spieler waren überhaupt mit dem Wagen gekommen? Wer genau? Die schnelle Abfolge der Fragen, die Schärfe, mit der er darauf bestand, daß sie sich genau erinnere, machten sie unsicher und nervös, und sie hätte viel darum gegeben, wenn statt Morse noch einmal der große, etwas ungelenke Constable gekommen wäre, dessen freundliche, niemals insistierende Fragen sie ganz entspannt hatte über sich ergehen lassen können. Morse dagegen brachte sie in Bedrängnis, ließ sie spüren, daß er ihre Antworten für unzulänglich hielt, und sie empfand fast so etwas wie Schuldgefühl, sich nicht besser erinnern zu können. Er erzielte jedoch (wie sie im nachhinein zugeben mußte) mit seiner Art durchaus die von ihm gewünschte Wirkung. Wenn man es genau betrachtete, so hatte er sie quasi gezwungen, ihm alles mitzuteilen, was sie wußte, und das war weit mehr, als sie vorher für möglich gehalten hätte. Morse war denn auch, als er – in der Hand eine Liste aller Gäste und ihrer Adressen – aufstand, um sich zu verabschieden, recht zufrieden mit dem, was seine Fragen zutage gefördert hatten. Zudem schloß er nicht aus, daß er von dem einen oder anderen der Spieler noch etwas erfahren würde. Da es beim Bridge (wie er gerade eben gelernt hatte) offenbar üblich war, daß das Paar, welches den Rubber gewonnen hatte, den Tisch wechselte, war es mehr als wahrscheinlich, daß Anne im Laufe des
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