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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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aufzusuchen, doch einer der Jungen öffnete die Tür. Wie waren gleich die Namen? Michael und …
    »Guten Abend, Michael.«
    »Ich bin Edward.«
    »Oh, ja natürlich. Ich bitte um Entschuldigung. Könnte ich wohl deine Mutter sprechen?«
    »Sie ist nicht da. Sie ist bei Michael. Er liegt im Krankenhaus.«
    »Ein Verkehrsunfall?« Wie kam er bloß darauf? Als ob es nicht tausend andere Gründe für einen Krankenhausaufenthalt geben konnte. Merkwürdigerweise schien die Frage dem Jungen peinlich zu sein. Er schluckte nervös und biß sich auf die Lippen.
    »Nein, kein Verkehrsunfall«, sagte er schließlich. »Michael hat Drogen genommen. Und neulich hat er dann wohl eine Überdosis erwischt.«
    »Das tut mir wirklich leid. Ist es ernst?«
    Der Junge nickte. »Ich glaube ja.«
    Auf einmal konnte Morse sich wieder erinnern. Genau. Dies hier war der jüngere Bruder, drei, vier Zentimeter größer als Michael, mit etwas bräunlicherem Teint und dunklerer Haarfarbe. Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung. ›E. M.‹ … Edward Murdoch! Aber natürlich. Immer mittwochs nachmittags. Und die Initialen ›M. M.‹, die bis etwa Juni dieses Jahres in Anne Scotts Kalender aufgetaucht waren, konnte er sich jetzt ebenfalls erklären. Sie standen für Michael Murdoch.
    Noch ganz unter dem Eindruck seiner unverhofften Erkenntnis, ging er ohne Umschweife aufs Ziel los. »Wie war das denn am Mittwoch vorletzter Woche, an dem Tag, an dem Ms Scott Selbstmord beging? Hättest du da nicht eigentlich Unterricht bei ihr gehabt?« Er wartete gespannt auf eine Reaktion des Jungen, doch der blieb völlig ruhig und sah ihn mit seinen dunklen Augen unverwandt an.
    »Ja.«
    »Du bist also hingegangen?«
    »Nein. Sie hat mir in der Woche davor gesagt, daß sie … daß sie an dem Mittwoch nicht könne.«
    »Ich verstehe.« Etwas im Ton des Jungen hatte ihn aufhorchen lassen, und aus einer Intuition heraus fragte er: »Mochtest du sie?«
    »Ja.« Er sagte es entschieden und zugleich sehr sanft.
    Morse hätte gerne weiter nachgefragt, lenkte dann aber doch zu einem unverfänglicheren Thema über.
    »Du machst nächstes Jahr Abitur?«
    Der Junge nickte. »Ja. Ich habe Deutsch, Französisch und Latein gewählt.«
    »Und wie sieht’s aus? Bist du zuversichtlich?«
    »Nicht besonders.«
    »Ach, an deiner Stelle würde ich mir nicht zu viele Sorgen machen. Und auf Zuversicht kommt es im Grunde nicht an. Das ist sowieso eine reichlich überschätzte Haltung. (Waren das nicht Mrs Murdochs Worte gewesen an jenem Abend vor mehr als vier Monaten – gleich zu Anfang, als sie ihn begrüßt hatte? Offensichtlich waren doch nicht alle Eindrücke verlorengegangen; was die ersten Stunden anging, schien sein Gedächtnis offenbar zu funktionieren.) Und laß es dir von einem alten Mann wie mir gesagt sein: wenn du im Leben weiterkommen willst, dann ist das einzige, was zählt, Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit.« Morse hörte sich reden, viel zu laut und unerträglich gönnerhaft, doch der strenge, beinahe etwas verächtliche Blick des Jungen ließ ihm keine Chance zu einem ehrenhaften Rückzug.
    »Ich saß gerade am Schreibtisch, als Sie kamen, Inspector.«
    »Tüchtig, tüchtig! Nun, dann will ich dich nicht länger aufhalten.« Er wandte sich zum Gehen. »Was ich nur noch gerne wissen möchte – hat Ms Scott dir gegenüber irgendwann einmal eine Andeutung über ihr Privatleben gemacht?«
    »Ist das der Grund, warum Sie Mutter sprechen wollten – um ihr Fragen zu stellen über Ms Scott?«
    »Ja.«
    »Also, mir hat sie nichts erzählt.«
    Das klang ja fast wie eine Verteidigung. »Und dein Bruder? Hat er irgendwann einmal etwas in dieser Richtung erwähnt?«
    »Was erwähnt?«
    »Ach, ist nicht so wichtig. Richte bitte deiner Mutter aus, daß ich da war, und sag ihr, daß ich in den nächsten Tagen noch einmal wiederkomme.« Er sah den Jungen einen Moment lang durchdringend an, dann drehte er sich um und ging.
     
    Miss Edgeley war die letzte auf Morses Liste. Ja, sie hatte an dem Abend mit Anne gesprochen. Anne hatte sie um einen Gefallen gebeten: sie komme doch auf dem Heimweg am Haus der Murdochs vorbei, ob sie wohl einen Brief bei ihnen durchstecken könne. Edward Murdoch sei einer ihrer Schüler, und sie habe eine Nachricht für ihn.
    »Und warum hat sie ihn nicht Mrs Murdoch mitgegeben?«
    »Es war schon ziemlich spät. Ich glaube, Mrs Murdoch war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr da. Sie ist ein bißchen früher gegangen als die anderen. Ihr Tisch war wohl

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