Die Toten Von Jericho
weil sie und ihr Mann nicht genügend Geld hatten, um ihn so aufwachsen zu lassen, daß er gute Chancen im Leben haben würde. Iokaste und Laios setzten ihren Sohn auf einem Berg aus; Anne Scott und ihr Mann gaben das Kind sofort nach der Geburt einer privaten Gesellschaft, die Adoptionen vermittelt. Ich kenne die Vorschriften und Regeln nicht, nach denen solche Gesellschaften arbeiten, aber ich bin sicher, daß sowohl die leiblichen Eltern als auch die späteren Adoptiveltern eine Klausel unterschreiben müssen, die es ihnen untersagt nachzuforschen, wohin das Kind kommt beziehungsweise woher es stammt. Und nun überlegen Sie mal einen Moment lang, Lewis, und dann beantworten Sie mir die folgende Frage: An was, glauben Sie, wird sich eine Mutter, wenn sie an ihr Kind denkt, immer erinnern, selbst in dem Fall, daß sie sich gleich nach der Geburt von ihm getrennt hat – an sein Gesicht, sein Aussehen überhaupt? Wohl kaum. Nach ein paar Wochen verschwimmen auch die deutlichsten Bilder, und das Kind wächst ja auch heran, verändert sich … Was also ist es, Lewis, das eine Mutter niemals vergißt? Sie haben noch Zeit, um nachzudenken, ich komme darauf zurück. Mein Freund Bell, Superintendent Bell, hatte ganz recht mit seiner Vermutung, daß an dem Abend des 2. beziehungsweise in den frühen Nachtstunden des 3. irgend etwas geschehen sein mußte, was Anne Scott zu ihrem Selbstmord, über den sie sicher schon lange vorher nachgedacht hatte, den letzten Anstoß gab.
Wir wissen, daß sie diesen Abend im Bridgeclub verbrachte, es liegt also nahe anzunehmen, daß es irgendeine Äußerung eines der Gäste war, vielleicht auch ein bestimmtes Thema, über das geredet wurde, welches die Krise, in der sie sich schon seit einiger Zeit befand, bis zur Unerträglichkeit zuspitzte. Nun haben wir ja durch unsere Ermittlungen eine ganze Menge darüber erfahren, wie der Abend verlief. Der 2. Oktober war der erste Jahrestag der Clubgründung, und so wurde gegen elf Uhr eine Pause eingelegt und Sherry gereicht, um auf das Jubiläum anzustoßen. So ein Glas Sherry, noch dazu, wenn der Abend schon etwas fortgeschritten ist, löst die Zunge, die Leute werden gesprächig, fangen vielleicht sogar an, ein bißchen zu tratschen. Von Miss Edgeley weiß ich, daß sich die Gespräche an diesem Abend unter anderem um Kinder drehten, Flüchtlingskinder aus Kambodscha und Vietnam. Wie ich die braven, biederen Hausfrauen aus Nord-Oxford kenne, werden sie wohl kaum über politische oder wirtschaftliche Aspekte des Flüchtlingselends geredet haben. Was sie berührt hat, war sicherlich das Schicksal dieser kleinen Würmer und die Frage, was man für sie tun könne – ob zum Beispiel die Möglichkeit bestehe, sie zu adoptieren. Mit anderen Worten, Lewis: Ich glaube, daß eines der Themen an diesem Abend Adoption war. Bei Bell hat sich, bevor er den Fall abgab, wie wir wissen, ein älterer Herr gemeldet, dieser Mr Parkes, dem plötzlich eingefallen war, daß sie sich an dem Abend auch über Geburtstage unterhalten hätten. Das lag ja auch irgendwie nahe: der erste Jahrestag der Gründung ist doch auch ein Geburtstag, wenn man so will. Nun habe ich Sie vorhin gefragt, Lewis, an was sich eine Mutter wohl ihr Leben lang erinnern wird. Die Antwort muß natürlich lauten: an das Datum, an dem ihr Kind geboren wurde. Und jetzt lasse ich mal ein bißchen meiner Phantasie freien Lauf. Ich könnte mir vorstellen, daß – nicht zuletzt dank des Sherrys – einer der Gäste, der Mrs Murdoch vielleicht näher kannte, etwas indiskret wird und den Umstehenden, darunter Anne Scott (unter dem Siegel der Verschwiegenheit, versteht sich), erzählte, daß ja auch der ältere der beiden Murdoch-Jungen, Michael, ein Adoptivkind sei. Und wenig später – man geht herum, stellt sich mal zu dieser, mal zu jener Gruppe – hört Anne Scott, wie Mrs Murdoch beiläufig erwähnt, daß Michael heute seinen neunzehnten Geburtstag feiere. (Sie erinnern sich, das zweite Thema dieses Abends waren Geburtstage.) Was für eine schicksalhafte Verkettung von Zufällen!«
»Ich dachte, Sie glauben nicht an Schicksal.«
Morse überhörte den Einwand und fuhr fort, an seinem modernen Ödipus-Mythos zu weben: »Laios, Iokastes Mann, wurde auf der Straße von Theben nach Korinth getötet, und auch John Westerby starb auf der Straße – durch einen Verkehrsunfall. Ich bin sicher, daß Anne Scott, obwohl sie seit vielen Jahren von ihm getrennt lebte und keine Verbindung mehr zu ihm hatte,
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