Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
der ganzen Sache gab es doch nur einen einzigen Zufall: daß der Sohn, den sie als Baby weggegeben hatte, fast zwanzig Jahre später zu ihr kommt, um Nachhilfeunterricht bei ihr zu nehmen. Und das ist im Grunde auch nicht einmal so besonders unwahrscheinlich; sie hat eine ganze Reihe von Nachhilfeschülern gehabt, und dermaßen groß ist Oxford ja nun auch wieder nicht.«
    »Und der Unfall?«
    »Der Unfall? Du meine Güte, jedes Jahr gibt es zigtausend Unfälle, Hunderte jeden Monat allein in Oxfordshire …«
    »Jetzt übertreiben Sie aber.«
    »Nein, keineswegs. Und im übrigen – Anne Scotts Tod ist jedenfalls kein merkwürdiger Zufall. Daß sie sich erhängt hat, war die Folge eines vorher von ihr gefaßten Entschlusses, einer bewußten Entscheidung, und geht nicht etwa zurück auf das Wirken irgendwelcher Nornen, die ihre Schicksalsfäden spinnen … oder kappen. Und daß Michael Murdoch sich mit Rauschgift vollgepumpt und sich dann während einer Entziehungskrise versucht hat, die Augen auszustechen, ist auch kein merkwürdiger, sondern ein ganz banaler Zufall: genausogut hätte er sich auch irgendeine andere Verletzung beibringen können.«
    »Also erst reden Sie von schicksalhafter Verkettung, und jetzt sind es auf einmal nur noch banale Zufälle, gar nichts Besonderes …« beklagte sich Lewis.
    Morse lächelte etwas gequält. Es stimmte, was er Lewis vorhin gesagt hatte, daß er nicht an das Walten eines Schicksals glaubte; andererseits ähnelten Leben und Tod von Anne Scott, wie er selbst zugeben mußte, auf wirklich höchst seltsame Weise denen der Königin Iokaste aus dem antiken Mythos …
    Er seufzte und gab sich einen Ruck. »Wissen Sie, Lewis, jetzt hätte ich Appetit auf Brateier mit Chips.«
    Lewis sah ihn erstaunt an. Bei Morse war man heute offenbar vor Überraschungen nicht sicher. »Ich schließe mich Ihnen an.«
    »Aber Sie werden mich wohl einladen müssen, Lewis. Ich habe kein Geld mehr.«
     

Kapitel Vierunddreißig
     
    Das Gute an einem Hotel ist,
    daß es Zuflucht bietet
    vor dem Leben zu Hause.
    G.B. Shaw
     
    Das Zimmer war ein gepflegter, gutausgestatteter Raum, wie man ihn in allen größeren Hotels auf der ganzen Welt findet: ein bißchen steril und unpersönlich zwar und nicht gerade billig, aber alles in allem doch recht behaglich. Auf jeder Seite des breiten Doppelbetts war eine Wandleuchte angebracht, doch keine der beiden war angeknipst. Richards hatte es, als er wach geworden war und sich eine Zigarette angezündet hatte, vorgezogen, im Dunkeln zu liegen. Er wußte nicht genau, wie spät es war, wahrscheinlich so gegen halb acht. Er war seit einer Stunde wach. Neben ihm lag, das Gesicht abgewandt, Jennifer Hills. Ab und zu bewegte sie sich, murmelte im Traum ein paar unverständliche Worte. Charles sah dann jedesmal zu ihr hinüber. Die leichte Decke, die sie über sich gebreitet hatte, war etwas verrutscht, doch der Anblick ihres nackten Körpers erregte ihn nicht – er war in Gedanken bei seiner Frau. Verwundert, aber auch deprimiert fragte er sich, wieso sie ihn jetzt, da sie sich endlich ausgesprochen und beschlossen hatten, sich zu trennen, innerlich so sehr beschäftigte. Anfang der Woche hatte sie ihn wegen Anne Scott zur Rede gestellt. Sie hatte weder geweint noch ihm Vorwürfe gemacht, aber er hatte ihr angesehen, wie sehr es sie verletzt hatte, daß er erneut eine Beziehung zu ihr eingegangen war. Um ihren Mund hatte ein harter Zug gelegen, den er nie zuvor bei ihr bemerkt hatte. Doch dann zwischendurch, als sie sich alter Zeiten erinnert hatten, hatte sie ihn plötzlich angelächelt und so jung und schutzlos ausgesehen, daß er einen Moment lang Herzklopfen bekam, so als sei er frisch verliebt. Sie hatte nicht mit ihm über ihre Pläne reden wollen; da sie sich trennen wollten, ging es ihn nichts mehr an, was sie anfing. Wo sie jetzt wohl sein mochte und was sie wohl gerade tat? Sicher war sie schon zurück aus Cambridge. Vielleicht war sie wie er früher wach geworden und schon aufgestanden, dann hatte sie bestimmt schon das Bett gemacht. Das tat sie immer zuerst …
    Seine Gedanken wanderten zu Conrad – dem guten, treuen Conrad. Vor drei Tagen war er plötzlich aus heiterem Himmel aufgetaucht und hatte sich in einem der billigeren Hotels auf der anderen Seite der Plaza ein Zimmer genommen. Nach außen hin wirkte er ruhig wie immer, doch wenn man ihn gut kannte, dann merkte man ihm an, daß er nervös war und sich Sorgen machte, was allerdings unter den

Weitere Kostenlose Bücher