Die Toten Von Jericho
ist nicht etwa nur eine Annahme von mir – sie selbst hat damals an dem Abend mir gegenüber von Schicksal gesprochen, und es war klar, daß es ihr damit sehr ernst war. Erinnern Sie sich nur mal an die vielen Bücher in ihrem Arbeitszimmer, ich denke vor allem an die Reihen von Penguin-Klassikern. Mir ist aufgefallen, daß sie die griechischen Tragiker anscheinend besonders oft in die Hand genommen hat; der Euripides und der Äschylos sahen ganz zerlesen aus. Aber wenn man von griechischen Tragödien spricht, dann darf man Sophokles nicht unerwähnt lassen, und er hat ein Stück geschrieben, das für Anne Scott offenbar besondere, ganz persönliche Bedeutung bekam. Sein Werk war vermutlich das letzte, was Anne Scott vor ihrem Tod gelesen hat – das Buch stand nicht im Regal, sondern lag aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch.«
»Ich glaube, ich weiß nicht so ganz, worauf Sie hinauswollen, Sir.«
»Also schön, dann hören Sie mal zu, ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein schöner junger Prinz, der kam in eine Stadt. Und als die Königin von seiner Ankunft erfuhr, da lud sie ihn zu sich in den Palast. Bald war er dort ein gerngesehener Gast. Die Königin war schön und sehr einsam – ihr Mann war erst vor kurzer Zeit während der Fahrt zu einer benachbarten Stadt auf der Straße umgekommen. Die beiden verliebten sich ineinander und beschlossen zu heiraten. Sie bekamen Kinder und führten ein glückliches Leben – doch dann holte sie das Schicksal ein. Sie wissen natürlich, wie es weiterging?«
Lewis schüttelte etwas traurig den Kopf und dachte daran, was ihm doch alles entgangen sei. »Nein, Sir, keine Ahnung. Von griechischen Tragödien haben sie mir in der Schule nichts erzählt.«
Morse schalt sich im stillen wegen seiner Gedankenlosigkeit; er hätte doch wissen müssen, daß Lewis bei seiner Schulbildung nicht mit antiker Dichtung in Berührung gekommen war. Er lächelte seinem Sergeant zu. Mochte er auch keine klassische Bildung besitzen, ein anständiger, ein liebenswerter Mann war er allemal.
»Dann hören Sie mal weiter zu, Lewis«, sagte er. »Ich werde es Ihnen erzählen. Der Prinz hatte viel Zeit, und eines Tages beschloß er herauszufinden, auf welche Weise der erste Mann der Königin den Tod gefunden hatte. In jahrelanger Suche machte er Augenzeugen ausfindig und erfuhr so, daß der nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen, sondern ermordet worden war. Und nun wollte er erst recht wissen, was genau damals geschehen war. Schließlich hatte er auch Erfolg und entdeckte, daß er selbst (Morse deutete in einer dramatischen Geste mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf seine eigene Brust), daß er selbst der Mörder war. Aber das war noch nicht alles. Er entdeckte außerdem, daß der Mann, den er ermordet hatte, sein eigener Vater gewesen war. Und auf einmal ging ihm die ungeheuerliche Wahrheit auf: nicht nur, daß er seinen Vater getötet hatte; die Frau, die er geheiratet hatte, war seine eigene Mutter. Und er hatte mit ihr das Bett geteilt und Kinder gezeugt! Als das alles ans Tageslicht kam, da ging die Königin hin und erhängte sich, und der Prinz, als er dies hörte, blendete sich. Und der Name des Prinzen war Ödipus, und die Geschichte ist der Ödipus-Mythos.«
Lewis fühlte sich merkwürdig bewegt. Von der Geschichte selbst, aber auch von der Art, wie Morse sie erzählt hatte. Wie schade, daß man ihm solche Dinge während seiner Schulzeit vorenthalten hatte. Wenn man ihn damals an die griechischen Tragödiendichter herangeführt hätte, könnte er genauso selbstverständlich über sie reden wie eben Morse. Und dann wäre ihm vielleicht auch aufgefallen, welche Ähnlichkeit da bestand zwischen dem Ende der Königin und dem Tod, den Anne Scott sich gegeben hatte … Obwohl ihm nicht so ganz klar war, wieso das nun wichtig sein sollte. Aber Morse ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Sie können sich vielleicht vorstellen, Lewis, wie im Laufe der Jahre dieser Mythos, den sie sehr genau kannte, eine immer größere Rolle in ihrem Leben zu spielen begann. Bei ihrer Eheschließung war sie jung und sehr hübsch gewesen – genau wie Iokaste, als sie die Frau des Königs Laios wurde. Kurz nach ihrer Heirat bekam Anne Scott einen Sohn. Und genau wie Iokaste sich von ihrem Sohn trennte, weil das Delphische Orakel ihr geweissagt hatte, daß er, wenn er herangewachsen wäre, seinen Vater töten würde, so mußte auch Anne Scott auf ihren Sohn verzichten,
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