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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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auch weniger gefährdet, als sie es gewesen war. Lewis merkte, daß der Chef eine Anwandlung von Melancholie hatte, stand auf, nahm, ohne ein Wort zu sagen, die beiden Gläser und ging, um zwei frische Biere zu holen.
    »Man kann also wohl sagen«, fuhr Morse fort, als Lewis wieder zurück war, »daß Anne Scott zu denen gehört hat, die mit dem Leben nicht zurechtkommen. Allmählich wächst in ihr ein Gefühl von Aussichtslosigkeit, sie beginnt sich zu sagen, daß sie ihre Chance verpaßt hat, daß es mit ihr langsam bergab geht. Ihre Aussichten, noch einen Mann zu finden, mit dem sie eine Familie gründen kann, sind gering. Die Männer, die vom Alter her für sie in Frage kämen, sind entweder längst verheiratet – wie Sie, Lewis – oder aber unverbesserliche Hagestolze wie ich, eigenbrötlerisch und zur Ehe nicht geeignet. Daß einige ihrer Schüler sie angehimmelt, sich vielleicht in sie verliebt haben, nun ja, das mag ganz schmeichelhaft gewesen sein, aber das ist doch nichts, wodurch sie sich wirklich hätte bestätigt fühlen können. Um sich mit so etwas zu trösten, war sie viel zu klug. Hinzu kommt, daß auch ihre materielle Situation alles andere als rosig ist. Sie hat kein festes Einkommen, lebt von dem Geld, das sie für ihre Nachhilfestunden erhält. Ich kann mir vorstellen, daß sie von Natur aus eine gewisse pessimistische Grundeinstellung gehabt hat. So nimmt sie, als sie von Charles Richards nichts hört, an, daß sie ihm gleichgültig und nicht einmal eine kurze Nachricht wert sei. Aber wie ich sie damals kennengelernt habe, glaube ich eigentlich, daß sie eine zähe Person war, die sich nicht so leicht unterkriegen ließ, die vermutlich trotz aller Probleme doch noch wieder die Kurve gekriegt hätte – wenn ihr da nicht auf dem Bridgeabend eine furchtbare Wahrheit aufgegangen wäre, mit der zu leben ihre Kraft überstieg.
    Was ihr an dem Abend klar wird, ist nichts weniger als die schockierende Tatsache, daß Michael Murdoch ihr Sohn ist. Und damit natürlich auch der Sohn John Westerbys, der wie Laios auf der Straße umgekommen ist. Und wie Laios in Ödipus, der ihn umbrachte, nicht seinen Sohn erkannte, so wußte auch John Westerby nicht, daß der Fahrer des entgegenkommenden Wagens sein Sohn war. Anne Scott aber muß es in diesem Moment vorkommen, als sei ihr vom Schicksal, ohne daß sie es auch nur geahnt hätte, die Rolle der Iokaste zugeteilt worden. Sie beschließt die einzige Wahl zu treffen, die ihr noch bleibt: sich ihrem Schicksal nicht zu widersetzen, sondern es anzunehmen. Sie wählt den Tod, den auch Königin Iokaste gewählt hat – sie erhängt sich. Doch selbst nach ihrem Tod noch waltet das Verhängnis: Michael Murdoch, der mit einer Drogenvergiftung im Krankenhaus liegt, versucht, sich die Augen auszustechen – wie Ödipus. All das Schreckliche, Lewis, was John Westerby, Anne Scott und Michael Murdoch widerfuhr, ist nichts anderes als eine grausige getreue Neuinszenierung des Mythos, wie wir ihn bei Sophokles beschrieben finden. Ich denke, wenn Anne Scott diesen Mythos nicht gekannt hätte, wäre ihr ihre Lage vielleicht nicht ganz so unausweichlich erschienen. Deshalb nannte ich Ihnen vorhin den Namen Sophokles als den des Schuldigen an ihrem Tod.«
    Die beiden Männer saßen eine Weile stumm, noch ganz unter dem Eindruck der schrecklichen Geschichte, die Morse erzählt hatte. Doch nicht lange, so bemerkte dieser, daß ihre Gläser leer waren, zog seine Brieftasche heraus und gab Lewis eine Fünfpfundnote.
    »Jetzt bin ich wohl mal dran mit Bezahlen.«
    Das war aus Morses Mund ein unerhörter Satz, und nicht genug damit, winkte er, als Lewis mit den Bieren zurückkam und ihm das restliche Geld wiedergeben wollte, lächelnd ab und bestand darauf, daß er es behielte.
    »Sie sind in letzter Zeit viel zu großzügig gewesen mit Ihren Runden, Lewis. Ein Übermaß an Großzügigkeit ist genauso ein Fehler wie Kleinlichkeit. Das behauptet jedenfalls Aristoteles.«
    Lewis wurde allmählich ganz schwindelig von den vielen illustren Namen. Sophokles, Aristoteles … Doch er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und stellte trotzdem die Frage, die ihn die ganze Zeit über beschäftigt hatte.
    »Und Sie wollen wirklich behaupten, Sir, Sie glaubten nicht an Schicksal?«
    »Natürlich nicht! Wofür halten Sie mich?!« antwortete Morse gereizt.
    »Aber was Sie da eben erzählt haben, das waren doch nicht alles nur Zufälle …«
    »Wieso sprechen Sie denn gleich in der Mehrzahl? Bei

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