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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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von seinem Tod und dessen näheren Umständen erfahren hat. Schließlich war sie mit Mrs Murdoch und natürlich auch mit Michael schon mehrere Monate bekannt, als der Unfall passierte – er liegt ja erst etwas über ein Jahr zurück –, und die Murdochs haben bestimmt mit ihr darüber gesprochen. Für sich genommen, war er ja auch nichts, was die Beziehungen zwischen ihr und den Murdochs, insbesondere Michael, hätte belasten müssen; es war einer jener Unfälle, bei denen es schwierig ist festzustellen, welcher der Beteiligten die größere Schuld hat. Es war eben John Westerbys Pech, daß Michael Murdoch Anfänger war. Jemand mit mehr Erfahrung hätte vielleicht schneller oder geschickter reagiert. Aber Unerfahrenheit ist niemandem als Schuld anzulasten. Erst im nachhinein, im Zusammenhang mit neuen Informationen, wird Anne Scott den Unfall mit anderen Augen gesehen haben. Doch damit greife ich vor. Zunächst einmal lernten Anne Scott und Michael Murdoch sich besser kennen. Michael stand kurz vor dem Abitur und hatte auf Wunsch seiner Mutter angefangen, bei Anne Nachhilfe zu nehmen. So saßen sie nun regelmäßig einmal in der Woche nachmittags nebeneinander in ihrem kleinen Arbeitszimmer. Sie muß für ihn der Inbegriff der reifen, erotischen Frau gewesen sein. Er für sie, die in ihrem Leben nur einen einzigen Mann wirklich geliebt hat – einen verheirateten Mann, dem seine Ehe letzten Endes doch wichtiger war als die Liebe zu ihr –, eine Bestätigung, daß sie noch attraktiv war, vielleicht gefiel ihr auch sein jugendlich-athletischer Körper. Die beiden fühlten sich also zueinander hingezogen. Ich nehme an, daß sie ihn ein bißchen ermunterte; von sich aus dürfte er zu schüchtern gewesen sein für irgendwelche Annäherungsversuche. Na, und von ihrem Arbeitszimmer zum Schlafzimmer sind es ja nur ein paar Schritte … Eine Zeitlang genossen sie so ihre heimliche Beziehung. Doch dann kam das böse Erwachen. Ihre Periode setzt aus, sie ist unruhig, wartet aber zunächst einmal ab. Sechs Wochen, sieben Wochen, schließlich acht Wochen. Sie entschließt sich, einen Test machen zu lassen, und geht in die Schwangerensprechstunde der Poliklinik, wo man ihr eine Urinprobe abnimmt, um sie an die Jericho Testing Laboratories zu schicken. Aber sie weiß im Grunde schon vorher – genau wie auch Ihre Frau es gewußt hat, Lewis –, daß sie tatsächlich schwanger ist. Allein, finanziell nicht abgesichert, macht die Tatsache, ein Kind zu bekommen, ihr Angst. So schreibt sie an Charles Richards, bittet ihn, sich mit ihr zu treffen, denn sie brauche Beistand, bittet ihn vielleicht auch um Geld, damit sie eine Abtreibung vornehmen lassen kann. Aber wie wir wissen, erreicht der Brief seinen Empfänger nicht. Durch einen unglücklichen Zufall (Anne Scott hätte das bestimmt anders gesehen) gelangt der Brief in die Hände von Celia Richards – und das ist, denke ich, der Punkt, an dem alles spätere Verhängnis seinen Ursprung hat. Die Tage vergehen, und Charles läßt nichts von sich hören; Anne Scott muß sich völlig verlassen gefühlt haben. Michael Murdoch war niemand, dem sie sich mit ihren Sorgen hätte anvertrauen wollen, dazu war er viel zu jung und zu unreif. Außerdem war er inzwischen mit der Schule fertig; die wöchentlichen Nachhilfestunden, die zum Schluß nur noch Vorwand gewesen waren, um ein paar schöne Stunden miteinander im Bett zu haben, fielen fort, und sie werden sich wahrscheinlich nur noch sehr unregelmäßig und selten gesehen haben aus Angst, sonst aufzufallen. Ich nehme an, daß Anne, als die Zeit verstrich, ohne daß sie von Charles hörte, immer deprimierter wurde und in dieser Stimmung vielleicht eine Bilanz ihres Lebens zog, die gänzlich negativ ausfiel: Zuerst die überstürzte Heirat mit John Westerby, dann ihre langjährige, intensive Liebesbeziehung zu Charles Richards, bei der jedoch ziemlich bald klar war, daß sie sich nie aus der Heimlichkeit emanzipieren, nie legalisiert werden würde, nach dem Scheitern ihrer Beziehung zu Richards dann vermutlich ein paar andere Männer; vielleicht, daß man schön miteinander schlief, aber keiner dabei, den sie hätte lieben können. Und schließlich der junge Murdoch …«
    Morse verstummte und betrachtete mit nachdenklichem Blick die Leute um sich her, wie sie da vor ihrem Bier saßen, über alltägliche Belanglosigkeiten schwatzten – oberflächlicher vielleicht als Anne Scott, mit weniger Ansprüchen an das Leben, aber möglicherweise

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