Die Toten Von Jericho
Scheck in Höhe des festgesetzten Bußgeldes von £ 6.-. Das Stra f mandat lege ich bei.
Mit freundlichen Grüßen
C. Richards
Lewis’ Blick wanderte zu dem gedruckten Briefkopf in der linken oberen Ecke. Die dort angegebene Adresse lautete: Oxford Avenue 216, Abingdon, Oxon.
Er hatte eher begriffen als Morse. »Es war also gar nicht Celia Richards, die das Bußgeld bezahlt hat. Das hier ist die Adresse von Conrad.«
Morse nickte. »Ja, so muß es gewesen sein. Conrad, der zuverlässige Freund, der jederzeit bereit ist, ihr einen Gefallen zu tun. Aber das wirft natürlich eine interessante Frage auf, Lewis! Warum hat sie mich angelogen? Sie hätte mir doch sagen können, daß es Conrad war. Ich hätte ihn selbst noch einmal zu der Sache befragt, und damit wäre …« Er verstummte, und über sein Gesicht ging ein Strahlen. Hier hatte sich eben überraschend einiges erhellt.
Mit vor Freude funkelnden Augen sah er Lewis an. »Ich glaube, wir haben einen Grund zum Feiern, meinen Sie nicht?«
»Ich weiß nicht so recht. Eben machen Sie mir noch Vorwürfe …« Lewis tat sich mit Morses raschen Stimmungsumschwüngen immer noch schwer.
»Ach, Lewis, nun seien Sie mal nicht nachtragend!« Er ging um den Schreibtisch herum und legte Lewis herzlich die Hand auf die Schulter. »Sie und ich, Lewis, wir sind ein Team – und was für eins. Gegen uns beide zusammen hat keiner eine Chance. Nehmen Sie Ihren Mantel, und kommen Sie!«
Lewis stand zögernd auf. Wieso mußte es eigentlich immer nach Morses Nase gehen? Aber irgendwie kam er eben gegen ihn nicht an.
»Ihnen scheint etwas klargeworden zu sein, Sir«, sagte Lewis.
»Das scheint nicht nur so, mir ist etwas klargeworden, Lewis. Wir gehen jetzt in den Pub, und beim Bier erzähle ich es Ihnen.«
»Mir wäre es lieber, Sie würden es gleich jetzt tun.«
»Na schön, wenn Sie es gar nicht aushalten: Wir sind am Ziel, Lewis. Wir wissen jetzt nicht nur, wer Schuld trägt am Tod von Anne Scott, sondern auch, wer Jackson umgebracht hat. Wollen Sie die Namen wissen? Jetzt gleich?«
Lewis nickte heftig, und so nannte Morse ihm die beiden Namen. Den ersten hatte Lewis noch nie gehört, und er runzelte etwas verwirrt die Stirn; der zweite haute ihn beinahe um.
VIERTES BUCH
Kapitel Dreiunddreißig
Welches ist der Maid Geschick,
Wer führt sie als Braut zurück?
Sir Walter Scott,
Das Lied des letzten Minstrels
»Es gibt drei verschiedene Anschauungen darüber«, begann Morse, »wie das menschliche Geschick sich gestaltet. Die eine besagt, daß alles, was geschieht – zum Beispiel, ob Sie an einem bestimmten Tag einer bestimmten Person begegnen –, aus purem Zufall geschieht; wir Menschen seien Atomen vergleichbar, die durch den Raum fallen, aufeinanderprallen, sich wechselseitig abstoßen, um wenig später erneut mit wieder anderen Atomen zu kollidieren. Ein großer Tanz mit Zufallspartnern! Daß Sie und ich heute abend hier zusammensitzen, ist dieser Anschauung zufolge allein dem höchst labilen Zusammenspiel glücklicher Umstände zu verdanken. Dann gibt es eine zweite Anschauung, die davon ausgeht, daß wir selbst es sind, die durch unsere Entscheidungen und Handlungen unser Leben bestimmen – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Früher oder später würden unsere Verfehlungen uns einholen, und wir hätten die Konsequenzen zu tragen. (Und die sogenannten guten Taten hatten keine Auswirkungen? – dachte er flüchtig.) Vielleicht wird diese Anschauung für Sie plastischer, wenn Sie sich ein Spiel Bowls vorstellen. Die Kugel, die da auf dem Rasen rollt, ist einseitig beschwert und hat deshalb notwendigerweise einen gewissen Drall in eine bestimmte Richtung. Und dann gibt es noch eine dritte Anschauung, die annimmt, daß es völlig gleichgültig sei, was wir täten, da ohnehin von Anfang an schon alles feststehe, von oben bestimmt sei – der genaue Ausdruck ist vorherbestimmt. Auf eine kurze Formel gebracht, lautet diese Anschauung: Was kommen soll, das kommt. Oder: Wenn du dran bist, bist du dran. Und was da wirkt, das ist das Schicksal. Angeblich.«
»Und was denken Sie, Sir?«
»Also, dieses Raunen von Schicksal halte ich für kompletten Blödsinn. Meine eigene Meinung zu diesen Dingen liegt etwa in der Mitte zwischen der ersten und der zweiten Anschauung. Aber was ich meine und denke, ist im Moment völlig uninteressant. Ich habe Ihnen das alles erzählt, Lewis, weil es wichtig ist, um den Selbstmord von Anne Scott zu verstehen. Das
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