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Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Titel: Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Nachmittag war seine Wut unverkennbar. Er holte mich auf dem Feld bei der Straße ein, packte meine Haare, schleuderte mich herum und schlug mit Vorder- und Rückseite seiner beiden riesigen Hände weiter auf meinen Kopf ein, bis ich wie eine Puppe in seinen Armen zappelte. Er zog meinen Kopf ganz nah zu sich heran, ich sah seinen Schweiß, seine gebleckten Zähne und roch seinen Mundgeruch, während er mich zwang, meine Worte zurückzunehmen. Er brachte mich dazu zu sagen, dass ich gelogen hatte. Er ließ mich um Vergebung betteln. Und als ich es tat, verzieh er mir und sagte, dass wir diesen Tag nie wieder erwähnen würden.
    Und das haben wir auch nicht. Nach diesem Tag haben wir eigentlich gar nicht mehr miteinander geredet.«
    »Glaubst du, dass er mit Ignacio darüber gesprochen hat?«
    »Ganz bestimmt nicht. Davon hätte ich erfahren. Ignacio hätte mir zugesetzt, um mich mit Drohungen wieder zum Schweigen zu bringen.«
    Beide waren für eine Weile still. Alicia ließ die Ungeheuerlichkeit dieser Erzählung auf sich wirken. Falcón saß vor der Tür und erinnerte sich an den Traum, den ihm Pablo erzählt hatte, und seinen anschließenden Zusammenbruch auf dem Rasen. In Alicias zuckenden, blinden Augen las er ihre Gedanken. War dies der richtige Augenblick? Wie sollte die nächste Frage lauten? Welche Frage würde die Logik hinter Sebastiáns extremen Handlungen offenbaren?
    »Hast du dich in den letzten Tagen gefragt, warum dein Vater sich umgebracht hat?«, fragte sie.
    »Ja, das habe ich. Und ich habe sehr angestrengt über seinen Brief nachgedacht«, sagte Sebastián. »Mein Vater hat Worte geliebt. Er hat für sein Leben gern geredet und geschrieben. Er mochte seine eigene Stimme. Er war gern ausschweifend. Aber in dem Brief hat er sich für diesen einen Satz entschieden.«
    Schweigen. Sebastiáns Kopf zitterte leicht.
    »Und was hat diese Zeile für dich bedeutet?«
    »Sie bedeutet, dass er mir geglaubt hat.«
    »Und warum sollte er deiner Meinung nach zu diesem Schluss gekommen sein?«
    »Vor meiner Verurteilung hatte mein Vater in seinem Leben einen Punkt erreicht, an dem er sich nicht mehr in Frage stellte. Ob es mit dem Glauben an seine eigene Größe zusammenhing oder den Claqueuren um ihn herum, weiß ich nicht. Aber für ihn war unvorstellbar, dass er sich irren oder einen Fehler machen könnte… Bis ich verhaftet wurde. Und nachdem ich hier eingesperrt worden war, habe ich mich geweigert, ihn zu treffen, deshalb kann ich mir nicht ganz sicher sein, aber ich glaube, damals haben sich erste Zweifel in seine Gedanken geschlichen.«
    »Er musste das Barrio verlassen«, sagte Alicia. »Er wurde gemieden.«
    »Im Viertel war er sowieso nie besonders beliebt. Er glaubte, dass alle ihn lieben würden, so wie sein Publikum ihn liebte, aber er hat sie nie als einzelne Menschen wahrgenommen und sich mit ihnen beschäftigt. Sie waren nur zur weiteren Glorifizierung von Pablo Ortega da.«
    »Das allein muss für ihn doch schon Anlass zum Zweifeln gewesen sein.«
    »Das und die Tatsache, dass seine beruflichen Engagements weniger wurden, weshalb er mehr Zeit hatte, in seiner eigenen Gedankenwelt zu leben. Und wenn man das tut, stößt man, wie ich weiß, auf alle möglichen Zweifel und Ängste, die in der Einsamkeit immer größer werden. Wahrscheinlich hat er auch mit Salvador gesprochen. Mein Vater war kein schlechter Mensch. Er hatte Mitleid mit Salvador und hat ihm Geld für seine Drogen gegeben. Ich bezweifle, dass Salvador es ihm direkt gesagt hat, weil die Persönlichkeit meines Vaters und die Furcht vor Ignacio ihn bestimmt eingeschüchtert haben, aber nachdem mein Vater erst einmal zu zweifeln begonnen hatte, hat er vielleicht aufmerksamer hingehört und Kleinigkeiten bemerkt. Und als das noch zu seinen Zweifeln hinzukam, hat er vielleicht die Lösung für die schreckliche Gleichung in seinem Kopf gefunden, die Summe all seiner Ängste. Es muss niederschmetternd für ihn gewesen sein.«
    »Aber findest du nicht, dass das eine unglaublich drastische Tat deinerseits war – dich hier einzusperren?«
    »Sie glauben doch nicht, ich hätte das nur gemacht, um die Aufmerksamkeit meines Vaters zu erzwingen, oder?«
    »Ich weiß nicht, warum du es getan hast, Sebastián.«
    Er zog sein Handgelenk weg und vergrub sein Gesicht in den Armen. In dieser Stellung wiegte er sich mehrere Minuten lang auf seinem Stuhl hin und her.
    »Vielleicht haben wir für heute genug«, sagte Alicia und berührte seine

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