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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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Versuch eines Kinderspielplatzes an, das war aus den Kommentaren der Leute herauszuhören. Hier in Neapel stand längst etwas Existentielleres auf dem Spiel, es ging ums Überleben, um Sein oder Nichtsein. Sie dachte an Luzie, und ihr wurde flau im Magen. Am Tatort waren mindestens zehn Polizisten zugange, auch die Leute von der Spurensicherung waren eingetroffen, Gentilini redete gerade mit einem von ihnen, er wirkte aufgebracht und fuchtelte mit den Händen.
    Sonja wiederholte ihre Frage. Hatten die Leute gesehen, was vor der Metzgerei passiert war? Kannten sie die beiden Toten?
    Der erste Mann antwortete gar nicht.
    Der zweite brummte nur, er habe die Schüsse gehört. »Das ging alles sehr schnell.« Wegwerfende Handbewegung, als sei der Vorfall kaum der Rede wert, eine Lappalie des Alltags.
    Die ältere Frau schlug flüchtig ein Kreuz.
    »Und wer hat geschossen?«
    »Zwei Kerle auf Motorrädern.«
    Sonja fragte weiter, aber die Antworten waren vage, ausweichend. Über die Marke der Motorräder gingen die Meinungen auseinander, BMW, Suzuki, Honda, alles war vertreten, auch die Farbe der Helme, schwarz, dunkelblau, silber, denn natürlich hatten die Täter Integralhelme getragen, die verhinderten, dass jemand sie erkannte. Insbesondere aber hatte Sonja plötzlich den Eindruck, vor einer unsichtbaren Wand zu stehen. Sie kam zwar aus dem Land der funktionierenden Kühlschränke, aber das hieß noch lange nicht, dass man in ihrer Gegenwart von Dingen sprach, die sie als Fremde nichts angingen.
    »Sind Sie etwa von der Polizei?«, fragte einer der Männer misstrauisch.
    »Io?« Sie lachte. »Nein.« Aber sie hütete sich davor hinzuzufügen, dass sie Journalistin war.
    »Was machen Sie hier, Urlaub?«
    Sonja zögerte. An die Frage würde sie sich gewöhnen müssen. Gentilini gegenüber hatte sie ein doppeltes Spiel gespielt. Das hier war etwas anderes. Sie war eine Fremde und würde die Leute vermutlich nie wiedersehen. Sie gab sich einen Ruck.
    »Ich … Ich suche meine Tochter, sie heißt Luzie, Lucia, sie ist neunzehn und sucht irgendwo in Neapel nach ihrem Vater, den sie noch nie gesehen hat und …« Die Worte sprudelten plötzlich aus ihr hervor, und sie spürte, wie sich auch Tränen daruntermischten. Der innere Druck ließ ein klein wenig nach.
    Sie schluckte, brach ab. Im nächsten Moment schon kam sie sich lächerlich vor, die ganze Fahrt nach Neapel erschien ihr absurd. Was hatte sie hier eigentlich verloren? Ihre Tochter … Nun, die würde schon wieder auftauchen, schließlich war sie selbst im Alter von neunzehn genau wie Luzie ihre eigenen Wege gegangen. Der Commissario hatte völlig Recht.
    Aber die Leute wandten sich nicht ab, niemand lachte oder lächelte auch nur. Die unsichtbare Wand war im Handumdrehen wieder verschwunden.
    Die ältere Frau legte ihr eine Hand auf den Arm. »Seien Sie unbesorgt. Sie wird ihn sicherlich finden, figlia mia.«
    »E come si chiama?«, fragte die zweite Frau. »Wie heißt er denn, der Papa?«
    Sonja schluckte. »Antonio«, sagte sie leise und spürte, wie ihr heiß wurde vor Scham. Sie wusste, was als Nächstes kam und dass sie sich auch an diese Frage gewöhnen musste.
    »Und weiter?«
    Es war ihr peinlich, dass sie nicht einmal den Nachnamen des Vaters ihrer Tochter kannte.
    »Ich muss weiter«, sagte sie schnell und warf einen improvisierten Blick auf die Uhr. Sie nickte den Umstehenden zu. »Grazie, arrivederci …«
    Sie hastete die Gasse hinunter und um die nächste Ecke aus dem Blickfeld. Etwa zwanzig Meter weiter entdeckte sie das Reklameschild einer Bar. Sie war leer. Der Barmann stand seelenruhig hinter seinem Tresen und las in der rosa Sportzeitung. Auf einem Aluminiumtablett lagen appetitlich aussehende Blätterteighörnchen. Bei ihrem Anblick knurrte Sonjas Magen laut und vernehmlich. Zwischen Cornetto zwei (mit Marmelade) und Cornetto drei (mit Cremefüllung) fragte sie den Barmann, der längst wieder über der Zeitung hing, ob er mitbekommen habe, was eine Straße weiter passiert war.
    Er hob kurz den Kopf und sah sie verständnislos an, als müsse er sich erst wieder in der Welt zurechtfinden. »Ach so, Sie meinen die Schießerei? Nichts Besonderes. Der tägliche Krieg der Camorra.«
    Er zuckte die Schultern wie angesichts einer Naturkatastrophe. Wozu sich darüber aufregen … Und damit sofortige Rückkehr zu den Fußballergebnissen der Serie A.

5
    Die Pension mit dem berückenden Namen O sole mio hatte im Internet richtig behaglich ausgesehen: mitten

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