Die Toten von Santa Lucia
vom Flughafen in die Stadt auch formuliert. Sonja hatte konsterniert in der Tür gestanden und nicht ein zweites Mal die Kraft gehabt zu einem Nein. Sie war müde und erschöpft und konnte gerade noch grazie murmeln und ein verlogen freundliches Lächeln aufsetzen. Dahinter kam sie sich vor, als wäre sie maximal sechs Jahre alt und müsste sich für ein Geschenk bedanken, das sie, sobald sie allein war, in die hinterste Ecke des Schrankes pfeffern würde.
Sonja schlüpfte wieder unter das Laken, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Ein Bild schob sich über das andere, Bilder vom Flughafen, von ihrer Ankunft, der Trattoria, dem verwahrlosten Platz, den Bewohnern der Quartieri Spagnoli. Sie versuchte sich ihre halb erwachsene Tochter vorzustellen, die hoffentlich wohlbehalten irgendwo in dieser großen Stadt im Bett lag und schlief. Es gelang ihr nicht.
Luzie war wieder ein Kind, noch nicht in der Schule, aber schon im Kindergarten. Eines Tages hatte sie auf dem Heimweg die Frage gestellt, vor der Sonja sich insgeheim schon lange gefürchtet hatte: »Wo ist mein Papa?«
»Weit weg«, hatte Sonja ausweichend geantwortet.
»Wie weit?«
»Sehr weit. Fast so weit wie der Nordpol.«
»Oder der Mond.«
»Ja, oder der Mond.«
Danach war ein paar Wochen Pause gewesen. Luzie hatte angefangen, Bilder mit einem gelben Mond zu malen, den die Kindergärtnerin hartnäckig für eine Sonne hielt, weshalb sie Luzie ständig dazu überreden wollte, Sonnenstrahlen und Blumen und eine Wiese zu malen, während Luzie sich nicht von Schafen und einem Bett und einem Mann im Mond abbringen ließ.
Oma Hilde fand das verwerflich. Schädlich. »Du machst dein Kind noch mondsüchtig«, sagte sie Woche für Woche, wenn sie abends zum Essen kam. »Wie sagen die Engländer? Lunatic? Ein Irrer mit Mondtick? Du musst ihr endlich sagen, wo ihr Vater lebt. Wenn du es ihr nicht sagst, tue ich es.«
»Untersteh dich«, fauchte Sonja regelmäßig zurück, »misch dich gefälligst nicht in meine Angelegenheiten ein!«
Aber sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte. Eines Abends hatte sie Luzie also in den Arm genommen und ihr erklärt, dass ihr Vater nicht auf dem Mond lebe, sondern in Neapel.
»Wo ist das, Neapel?«
»Gaaaaanz weit weg«, hatte Sonja geraunt und so viel Märchenatmosphäre wie möglich in ihre Stimme gelegt.
»Können wir ihn da besuchen?«
»Nein, das können wir nicht. Die Reise ist sehr beschwerlich, man muss zuerst durch das Land der Feen und Zauberer, und wenn man die drei Rätsel gelöst hat, die …«
»Ist es schön dort?«
»Sehr schön, fast wie im Paradies.«
Das war eindeutig schön genug und stellte Luzie für eine gewisse Zeit zufrieden. Neapel war zu einem unerreichbaren, magischen Ort mutiert, der mindestens ebenso weit weg lag wie die Weihnachtsmanninsel und das Nikolaushaus. Natürlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Luzie aufhörte, an den Weihnachtsmann zu glauben, und selbst wenn die hausgemachte Magie danach noch eine Weile wirksam blieb, war sie spätestens in dem Moment unwirksam geworden, als Neapel auf einer Landkarte auftauchte. Am Tag nach den ersten Schulferien war es so weit.
»Sabrina war in Neapel«, verkündete Luzie, kaum dass sie ihre Schultasche in die Ecke geschleudert hatte. »Ich will da auch hin.«
»Ich nicht«, hatte Sonja mit trockenem Hals geantwortet.
»Ich aber!«, hatte Luzie gekräht.
Ab dem Moment war Neapel überall präsent gewesen. Dutzende von Pizzerien und Eisdielen hießen so, und wenn sie zum Pizzaessen gingen, bestellte Luzie schon aus Trotz eine Pizza Napoli, obwohl sie viel lieber eine mit Salami gegessen hätte. Immer wieder, in zig Varianten von quengelig bis zuckersüß, hatte Sonjas Tochter das Thema auf Neapel gebracht und dass sie in den Ferien hinfahren würde, um Papa zu besuchen, zusammen mit Oma Hilde, notfalls auch ganz allein …
Wie lange das alles zurück lag … Sonja hatte etwas unternehmen müssen, damit sich dieser Traum von einem Papa in Neapel nicht weiter in ihrer Tochter ausdehnte, nicht noch konkretere Formen annahm und Land in Luzies Herzen besetzte, das sich nie wieder zurückerobern ließe. Daher der Griff in die Kiste der Notlügen, als Eingeständnis kaschiert: »Luzie, weißt du, das mit Neapel … Das stimmt gar nicht. Früher hat er dort gelebt, aber dann ist er weggezogen … Ich weiß selber nicht, wo er jetzt wohnt, ich habe nicht einmal seine Adresse, gar nichts …«
Sonja wurde erneut wach, als sie in
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