Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
Vom Netzwerk:
nächster Nähe einen Knall hörte, dann einen zweiten – Schüsse, echte Schüsse, keine geträumten. Drei Uhr irgendwas. Sie stand nicht ein zweites Mal auf, um auf eine trostlose Kirchenwand und eine verlassene Gasse zu blicken. Schweißgebadet blieb sie liegen und versuchte, nicht an die Leichen vor der Metzgerei zu denken, nicht an die Blutlache, die Schaufensterdekoration aus Hirn, Leber und Tierkadavern. Es war nicht ihre Stadt. Die Schüsse gingen sie nichts an. Auch die Toten gingen sie nichts an, nur die Lebenden.
    Sie versuchte, ein paar Seiten zu lesen, aber die Worte und Sätze waren wie eine undurchdringliche Tür, die sie verständnislos mit den Augen abtastete. Als sie glaubte, müde genug zu sein, löschte sie das Licht, doch sobald es dunkel war, fühlte sie sich wieder hellwach. Also Entspannungsübungen: einatmen, ausatmen, den Atem fließen lassen bis zur Kopfhaut, zurück bis unter die Fußsohlen und wieder ausatmen, einatmen, den Atem fließen lassen, sich von Kopf bis Fuß als Einheit spüren – normalerweise klappte das ganz gut, aber ihre Gedanken ließen nicht locker.
    Wie wurden Kinder gezeugt – in den Bilderbüchern gab es dafür stets einen Papa und eine Mama, Punkt Punkt Komma Strich, und die Samen flossen als lustige kleine Kaulquappen durch einen Sprechblasenkanal vom Strichmännchenpapa zur Strichmännchenmama und tanzten dort mit dem Ei, heididei. Doch wie sah dieser Strichmännchenpapa in Wirklichkeit aus? Wie breit war sein Mund, welche Farbe hatten seine Haare, wie klang seine Stimme, sein Lachen, war er dick oder dünn, sah er gern die Sportschau, konnte er auch Pfannkuchen backen wie der Papa von Luzies bester Freundin Jara?
    »Sieh in den Spiegel«, hatte Sonja gesagt, »du siehst ihm ähnlich, die dunklen Haare hast du von uns beiden, aber die Augen von ihm …«
    Sie hatte diese Gespräche gehasst und war ihnen am liebsten aus dem Weg gegangen, indem sie schnell das Thema wechselte oder sagte, sie müsse dringend telefonieren oder vorschlug, sie könnten ja am nächsten Nachmittag zusammen ins Kino gehen.
    Als Luzie dreizehn war, hatte Sonja versucht, ihrer Tochter die Vorgeschichte nüchtern zu erklären, ohne Firlefanz, nur die nackten Tatsachen: Es gab da einmal einen Mann, bei einem Campingurlaub in Italien, mit dem sie geschlafen hatte, es hatte sich eben so ergeben, und ein paar Wochen später hatte sie entdeckt, dass sie schwanger war, und beschlossen, das Kind – »das warst du, Luzie« – zu bekommen und allein großzuziehen. »Und er ist nie wieder aufgetaucht?«
    »Tja, weißt du … Weißt du was? Überraschung, Überraschung! Ich hab Karten für das Madonna-Konzert bekommen …«
    Nach diesem Gespräch hatte Luzie nie wieder nach ihrem Vater gefragt. Anscheinend war die Auskunft zufriedenstellend gewesen und half, den Vater in den Hintergrund zu rücken. Im Vordergrund standen nun Schwärmereien für Jungen in ihrem Alter, erste Verliebtheiten, Händchenhalten, der erste Kuss, der erste Freund. Über alles hatten Mutter und Tochter ganz offen geredet, natürlich über Empfängnisverhütung und Aids und woran man, außer durch Gänseblümchenblätterzählen, merkte, ob an einem Flirt mehr dran war oder weniger, und dass man die Männer lieber an der langen Leine laufen ließ, als ihnen hinterherzurennen, und Luzie hatte sich voll und ganz in die Pubertät gestürzt, mit Haut und Haaren, und sich bei Sonja Rückhalt geholt, und alles war gut gewesen, alles, alles. Jahrelang. Bis zu dem Tag, als Luzie den kleinen Koffer fand.
    Es war Ende März gewesen, ein verregneter Tag. Zusammen mit zwei Freunden war Luzie auf den Dachboden gestiegen, um den alten Schrank ihrer Urgroßmutter, in dem Winterjacken und dicke Mäntel aufbewahrt wurden, drei Stockwerke runter in ihr Zimmer zu schleppen, wo sie ihn später abbeizen wollte. In dem Verschlag unter dem Dach lagerten alle möglichen von Sonja ausrangierten, nicht mehr in die Zeit passenden, störenden Dinge. Luzie hatte zu stöbern begonnen …
    Der Karton war ganz unscheinbar. Hellbraune Pappe, mehrfach benutzt, mit eingerissenen Grifflöchern. Sonja hatte ihn damals in die hinterste Ecke geräumt, er enthielt Erinnerungen an ihre eigene Kindheit: ihre ersten Schuhe, ein altes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, eine Puppe, Stofftiere, eine kaputte Flöte, alte Schulhefte, viele Bilder, die Sonja als Kind gemalt hatte. Und einen uralten kleinen braunen Lederkoffer, in dem Sonja als Kind ihre Puppenkleider aufbewahrt

Weitere Kostenlose Bücher