Die Totengräberin - Roman
fummeln und das Programmheft aufzuschlagen. Er hatte Augen wie ein Luchs, aber diese Brille war aus seinem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie gehörte zu ihm wie der halblange Haarschnitt und der hauchdünne Schnurrbart, dessen Pflege ihn jeden Morgen geraume Zeit kostete. All das zusammen gab ihm das Aussehen eines eleganten, sportlichen Mannes mit einem gewissen intellektuellen Touch.
Er begann gerade damit, im Programmheft etwas Unleserliches neben die Besetzungsliste zu kritzeln, um allen in seiner Umgebung deutlich zu machen, dass er nicht zum Spaß im Theater saß, sondern um das Stück zu beurteilen, als sein Handy in der Jacketttasche vibrierte. Er sah auf dem Display, dass es ein Anruf seiner Mutter war, und knipste ihn weg. Bei aller Liebe, aber jetzt konnte er wirklich nicht
telefonieren. Er würde sie morgen anrufen. Am Nachmittag vielleicht, wenn er ausgeschlafen hatte.
Topo schaltete das Handy ganz aus. Langsam wurde es dunkel im Zuschauerraum. Im Programmheft hatte er den Namen einer jungen Schauspielerin entdeckt, den er noch nicht kannte. Viviana Rossi.
Während er sich wohlig zurücklehnte, steckte er mit langsamen, ruhigen Bewegungen seine Brille wieder ins Etui und in die Jacketttasche. Er war neugierig auf den Abend und die Nacht. Alles war möglich, und die ganze Welt lag ihm zu Füßen.
Albina Topo lebte seit zweiundsiebzig Jahren in der Altstadt von Ambra, in einem nur vier Meter schmalen Haus oberhalb der Kirche. Hier war sie geboren, hier hatte sie mit ihrem Mann Adolfo gelebt und ihren Sohn Stefano geboren. Jetzt hatte sie nur noch den einen letzten Wunsch: in diesem Haus auch zu sterben.
Als sie vor drei Jahren gespürt hatte, dass sie merklich schwächer wurde und sich ein Krebs in ihrem Inneren auszubreiten begann, hatte sie die Lust am Leben verloren. Sie wusste beim besten Willen nicht, wofür es sich gelohnt hätte zu kämpfen. Jedenfalls nicht für ihren Sohn, der in Florenz lebte, sich für etwas Besseres hielt und sie oft monatelang nicht besuchte. Im Grunde kam er nur, wenn er unbedingt musste. Zu Weihnachten oder zu ihrem Geburtstag. Dass er es nur widerwillig tat, spürte sie deutlich. Pflichtbewusst trug er seine Mutter vom Sessel auf die Toilette, bezog das Bett, kochte ihr Tee und holte ihr zum Frühstück eine Zuckerschnecke vom Bäcker. Er schaltete den Fernseher ein und räumte die Wohnung auf. Aber er redete kaum. Erzählte nichts aus Florenz, und Albina wusste
nichts von ihrem Sohn. Sie fragte sich oft, ob er eine Freundin hatte, und wenn sie ihn darauf ansprach, zuckte er nur die Achseln und sagte: »Ab und zu ist da jemand, Mama. Aber nicht immer. Nichts Ernstes, nicht der Rede wert.«
Er kam ihr vor wie ein Fremder. Da kannte sie ihre Nachbarin Rosita, die Dottoressa und den Pfarrer, die regelmäßig nach ihr sahen, besser.
Albina wusste, dass Stefano ihr ab und zu etwas aus dem Portemonnaie nahm, wenn er sie besuchte, für sie einkaufen ging oder wenn er ihre paar Euro Rente von der Post holte. Ihr letztes Hemd hätte sie ihm gegeben, wenn er sie darum gebeten hätte. Aber er tat es nicht, und nie kam ein Ton des Bedauerns für ihre ausweglose Situation über seine Lippen.
Zu Beginn ihrer Erkrankung nahm sie noch die Medikamente, die ihr verschrieben wurden, machte zweimal eine Chemotherapie und ertrug die Bestrahlungen, die ihre ganze Kraft aufzehrten. Dann hörte sie damit auf und betrat kein Krankenhaus und keine Arztpraxis mehr. Sie hatte mit diesem Leben abgeschlossen.
Jeden Abend kam Rosita, die direkt gegenüber wohnte, für eine halbe Stunde, um sie zu waschen und ins Bett zu bringen. Ab und zu las sie ihr auch etwas aus der Zeitung vor, wenn etwas Bemerkenswertes geschehen war. Rosita war zehn Jahre älter als Albina und kerngesund. Sie hatte drei Kinder, die in Mailand, Rom und Florenz lebten und regelmäßig zu den Feiertagen nach Hause kamen.
Irgendetwas habe ich falsch gemacht in meinem Leben, dachte Albina oft, der Herr straft mich für ein Vergehen, das ich nicht kenne.
In diesem Sommer, das wusste Albina, würde sie es nicht
mal mehr bis vor die Tür schaffen, wo sie auf der Straße ein bisschen in der Sonne sitzen und dem Gesang von Rositas Kanarienvogel zuhören konnte. Er schaukelte in seinem kleinen goldenen Käfig vor Rositas Küchenfenster im Wind, wenn das Wetter warm genug war.
Albina liebte Vögel. Vor zehn Jahren, zwei Jahre vor seinem Tod, hatte ihr Adolfo an einem sonnigen Frühlingstag aus einer Tierhandlung in San
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