Die Totengräberin - Roman
Müdigkeit. Nie hatte er die Ruhe und die Muße, in die Sterne zu gucken. Ich kenne von allen Sternbildern in diesem irrsinnigen Sternenmeer nur den großen und den kleinen Wagen. Mehr nicht. Und du?«
»Den Polarstern würde ich noch finden. Aber dann ist auch bei mir Ende.«
»Wenn man bedenkt, dass viele Sterne, die jetzt noch leuchten und die wir in diesem Moment sehen, in Wahrheit
schon seit langer Zeit gar nicht mehr existieren. Das finde ich so unglaublich.«
Lukas wollte sich nicht über Sterne unterhalten. Er hatte das Gefühl, sie wolle nur ablenken. »Wo ist er, Magda?«, fragte er. »Ganz ehrlich. Was glaubst du?«
»Es ist wie mit den Sternen. Nur umgekehrt. Wir sehen ihn nicht, aber er ist irgendwo.«
»Aber insgeheim hast du doch eine Vermutung. Eine Befürchtung. Sag sie mir, Magda. Nur so kommen wir weiter.«
»Ich habe keine Ahnung. Noch nicht mal eine Idee.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mir mal seinen Schreibtisch ansehe? Vielleicht finde ich etwas: eine Notiz, ein Papier, das uns irgendeinen Hinweis gibt.«
»Bitte schön. Guck dir alles an. Mir egal. Seinen Schreibtisch, sein Filofax, meinetwegen auch seinen Computer. Ich habe jedenfalls nichts gefunden.«
Beide schwiegen mehrere Minuten lang. Dann sagte sie plötzlich: »Es ist schön, dass du hier bist. Von mir aus kannst du bleiben, so lange du willst.«
Lukas wollte gerade etwas sagen, da stand sie völlig unvermittelt auf.
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, sagte sie. »Besser, ich geh ins Bett. Gute Nacht.« Und ohne ein weiteres Wort ging sie ins Haus.
Lukas war nicht müde und verbrachte die halbe Nacht in Johannes’ Arbeitszimmer. Zwei Stunden brauchte er allein, um den Computer zu durchforsten. Er fand fünf Hotels in Rom, die Johannes offensichtlich angeklickt hatte. Aber ob er eines dieser Hotels gebucht hatte, wurde ihm nicht klar, zumal er Johannes’ Passwort nicht wusste, um die E-Mails zu lesen. Er notierte sich die Namen der Hotels und begann, den Schreibtisch zu durchsuchen.
Im Terminkalender stieß er häufig auf die Eintragung »C«. Mal mit Uhrzeit, mal ohne. Im Adressbuch standen ein paar deutsche, aber dann vor allem italienische Namen unter dem Buchstaben »C«: das Wort »Castagnoli«, das Lukas gar nichts sagte, »Computer-Service Schlossstraße« und »Cesare«. Dann folgten noch: »Clinica Veterinaria«, »Christian«, »Carabinieri Bucine«, »Caldaie Servizio«, »Careggi-Ospedale Firenze« und schließlich eine »Carolina« mit einer Berliner Telefonnummer. Er notierte sich die Nummer auf einem Klebezettel. Vielleicht war sie »C«.
Am nächsten Morgen stand er um acht auf. Es war still im Haus, offensichtlich schlief Magda noch.
Er duschte kurz, trank ein Glas eiskaltes Wasser und ging dann wieder in Johannes’ Arbeitszimmer, um zu telefonieren.
Es war halb neun, als er die Nummer von »Carolina« wählte. Er rechnete nicht damit, dass sich jemand melden würde, und zuckte regelrecht zusammen, als eine verschlafene Stimme sagte: »Ja?«
»Einen wunderschönen guten Morgen«, begann er freundlich, »es tut mir sehr leid, dass ich Sie störe, aber ich bin Lukas Tillmann, der Bruder von Johannes.«
»Ah ja. Und? Was wollen Sie?« Ihr Ton war leicht gereizt.
»Johannes ist seit einigen Tagen verschwunden. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht eine Ahnung haben, wo er sein könnte.«
»Ich denke, er ist bei seiner Frau in Italien.«
»Nein, das ist er nicht. Ich bin hier in Italien, in seinem Haus. Er ist ein paar Tage weggefahren und nicht wiedergekommen.«
»Tut mir leid, da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Seit wann vermissen Sie ihn denn?«
»Seit letzten Freitag.«
Sie lachte kurz auf und musste husten. »Ach, du lieber Himmel, da machen Sie schon die Pferde scheu? Nach den paar Tagen? Wahrscheinlich hat er’ne schöne Frau kennengelernt und ist in ihrem Bett untergetaucht. Da würde ich mir keinen Kopf machen. Und ich möchte jetzt gerne weiterschlafen.«
»Natürlich. Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe.«
Ohne ein weiteres Wort legte Carolina auf.
Lukas blieb nachdenklich am Tisch sitzen und malte geometrische Figuren auf einen Notizblock.
»Du lieber Himmel«, sagte Magda, als Lukas Kaffee trank und sie zum Frühstück nach unten in die Küche kam, »du siehst ja aus, als hättest du die ganze Nacht durchgesoffen. Was hast du denn noch gemacht, nachdem ich ins Bett gegangen bin?«
»Ich habe Johannes’ Sachen durchgeguckt.«
»Und? Was
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