Die Totengräberin - Roman
einen?«
»Ja, gern.«
Lukas verschwand in der Küche.
Magda schob den Brief in einen Umschlag, frankierte ihn und schrieb die Adresse darauf: Thorben Tillmann, Kolleg St. Blasien, Fürstabt-Gerbert-Str. 14, 79837 St. Blasien.
Dann legte sie den Brief zurück in die Kiste, der sie auch Briefpapier und Briefumschlag entnommen hatte.
Lukas kam mit dem Kaffee und setzte sich zu ihr.
»Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende essen gehen? Dieses kleine, neue Restaurant in Ambra würde ich gern mal ausprobieren.«
Eine wundervolle Idee, fand Magda. Vielleicht würde sie ja dadurch endlich auf andere Gedanken kommen.
24
Stefano Topo war ein bisschen spät dran und ärgerte sich, dass die bestellte Taxe fünfzehn Minuten auf sich warten ließ. Er konnte es überhaupt nicht leiden, irgendwo zu spät zu kommen, aber noch mehr hasste er es, wenn er selbst an der Verspätung unschuldig war.
Der Taxifahrer, der schließlich vor seinem Haus hielt, war ein grimmiger Glatzkopf mit der Ausstrahlung eines Mannes, der bei einer Meinungsverschiedenheit lieber Fäuste als Argumente sprechen ließ. Topo verzichtete darauf, ihn nach dem Grund für die Verspätung zu fragen, es war jetzt wichtiger, möglichst schnell zum Teatro della Pergola zu kommen. Er öffnete die rechte hintere Tür der Taxe und wollte sich gerade setzen, als er auf dem Sitz einen pflaumengroßen, eingetrockneten Schokoladenfleck entdeckte. Angewidert zuckte Topo zurück. Zu spät kommen war schon schlimm, aber ein Fleck auf seinem anthrazitfarbenen, maßgeschneiderten Anzug schlichtweg eine Katastrophe.
Er bat den Fahrer zu warten, ging um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein.
»Bitte zum Teatro della Pergola in der Via della Pergola«, zischte er. »Und bitte fahren Sie schnell, ich hab es eilig.«
Der Fahrer grinste und drückte aufs Gas.
Stefano war ein attraktiver Mann Mitte vierzig, der nur ein einziges Ziel im Leben hatte: Karriere. Schon als Kind war ihm klar geworden, dass er eines nicht wollte: so leben wie seine Eltern. Dieses kleine Ambra, wo er in einem schmalen Haus in der Altstadt direkt neben der Kirche aufgewachsen war, ödete ihn an. Er spürte instinktiv, dass die Schule der einzige Weg war, auszubrechen und nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten und die kleine Werkstatt am Dorfausgang übernehmen zu müssen. Er entwickelte sich zum Streber, spielte nicht im Fußballverein, nicht im Jugendorchester und nicht in der Theatergruppe, sondern lernte von früh bis spät. Nach einem glanzvollen Abitur studierte er Literatur und Theaterwissenschaften in Rom. Anschließend zog er in Florenz in eine winzige und völlig überteuerte Wohnung im vierten Stock, mit einem kleinen Balkon und einem wundervollen Blick über die Stadt. Wenn sich die Abendsonne in der Kuppel des Doms spiegelte, dann hatte Topo das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben.
Seit zwei Jahren schrieb er Theaterkritiken für den Rundfunk und Literaturkritiken für die regionale Zeitung La Voce della Toscana . Er liebte es, seine Texte gedruckt zu lesen und seine Stimme im Radio zu hören. Und noch mehr genoss er es, bei Empfängen, Galaveranstaltungen und Premieren von den Künstlern der Stadt beachtet und hofiert zu werden. Stefano Topo war ein anerkannter Bürger und setzte alles daran, eines Tages zu einer florentinischen Institution zu werden. Er hatte die Macht, Karrieren zu fördern oder zu vernichten, und seine scharfzüngigen Kritiken waren gefürchtet.
Und nun saß er in einer Taxe und war auf dem Weg zu
der Premiere von »La Raganella« von Vittorio Belacci, was so viel hieß wie: Der Wetterfrosch. Eine Uraufführung und ein gefundenes Fressen für Topo, denn bei Uraufführungen wurden die Kritiken ganz besonders beachtet und überall zitiert.
Drei Minuten vor Beginn traf er im Theater ein. Er holte seine Freikarte und das Programmheft an der Kasse ab und ging direkt zu seinem Stammplatz in der vierten Reihe im Parkett. Bedauerlicherweise fehlte ihm die Zeit, im Foyer zu flanieren, aber schließlich gab es noch eine Pause und eine Premierenfeier. Genug Gelegenheit, sich zu zeigen und den ein oder anderen Prominenten zu begrüßen.
Die vierte Reihe war schon fast vollständig besetzt. Er hatte es gern, wenn alle aufstanden, damit er sich zu seinem Platz hindurchzwängen konnte, er grüßte wahllos nach links und rechts, nickte nach allen Seiten, setzte sich und schaffte es gerade noch, seine Lesebrille mit Fensterglas aus dem Etui zu
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