Die Totengräberin - Roman
dachte er daran, sein Handy wieder einzuschalten. Fünf Anrufe in Abwesenheit zeigte das Display. Alle von seiner Mutter.
Jetzt nicht, Mama, dachte er. Nicht heute Abend. Ich habe zu tun.
Es gab nicht viele Kritiker, die sich auf einer Premierenfeier blicken ließen. Die meisten vermieden es, private Gespräche mit Schauspielern zu führen, um nicht der Küngelei und Vetternwirtschaft bezichtigt zu werden, und gingen direkt nach Hause, um ihre Kritik sofort zu schreiben und noch in derselben Nacht per E-Mail zu versenden. Sie waren die unsichtbaren Halbgötter, die zwar im Parkett gesichtet wurden, sich dann aber mit dem Fallen des Vorhangs sofort in Luft auflösten.
Nicht so Stefano Topo. Er genoss den Moment, als sich bei seinem Eintreten viele Augen auf ihn richteten und er als Erstes vom Intendanten begrüßt und zu einem Glas Champagner eingeladen wurde. Er lächelte in die Runde, verteilte altmodische Handküsse und gratulierte den Schauspielern kurz und knapp und mit den immer gleichen Worten. Dass die Hauptdarstellerin Maria Santini, die hinreißend gespielt hatte, ihn überhaupt nicht registrierte, fraß sich wie ein Tropfen Säure in seine Seele. Ein wichtiger Aspekt für seine Kritik. Wichtiger als alles, was Maria Santini an diesem Abend geleistet hatte.
Aber er hatte keine Lust, sich seine Laune durch eine eingebildete Schauspielerin, die offensichtlich keine Ahnung hatte, wer er war, verderben zu lassen, und konzentrierte sich nur noch auf die nicht sonderlich talentierte, aber blutjunge Viviana Rossi.
Am nächsten Morgen erwachte er bereits um Viertel vor zehn, weil Viviana im Schlaf seufzte und ihren Arm um seinen Hals legte, sodass er kaum noch Luft bekam. Er legte ihren Arm vorsichtig zur Seite und stand leise auf.
Im Bad trank er eiskaltes Wasser direkt aus der Leitung, zog seinen Bademantel an, fuhr sich mit der Bürste durch die Haare und setzte sich im Wohnzimmer an den Computer.
Die Wut auf diese eingebildete Ziege Maria Santini saß ihm immer noch im Bauch. Ein Griff in die Klamottenkiste betitelte er seine Kritik und setzte darunter: Kurioses Sommerspektakel im Teatro della Pergola mit der Schmierenkomödie »La Raganella«. Ein Lächeln zog über sein Gesicht. Nicht nur das Stück von einem völlig unbekannten Autor, sondern vor allem Maria Santini würde er fertigmachen, das war klar, und er freute sich schon darauf, wie überaus freundlich und zuvorkommend sie ihn bei der nächsten Gelegenheit begrüßen würde.
Sein Handy klingelte. »Unbekannte Nummer« stand auf dem Display. Topo seufzte genervt und nahm das Gespräch an. Es war Rosita. »Deine Mutter ist tot, Stefano«, sagte sie ohne Umschweife. »Am besten, du kommst so schnell wie möglich her. Ich habe noch niemandem Bescheid gesagt und lasse alles so, wie es ist, bis du hier bist.«
»Ich beeile mich«, sagte er, »aber vor heute Nachmittag kann ich nicht da sein.«
»Tu, was du willst«, meinte Rosita knapp. »Meinetwegen kannst du auch erst morgen kommen. Das musst du alles selber wissen. Ich wollte dich nur informieren.«
»Danke, Rosita.«
Er knipste das Handy aus und hatte Lust, es gegen die Wand zu schleudern. Das passte ihm alles gar nicht. Um zwölf musste er im Sender sein und die Kritik aufs Band sprechen, das ließ sich nicht aufschieben. Verdammt. Die Zeit war sowieso schon knapp, und jetzt saß ihm auch noch seine tote Mutter im Nacken.
Er versuchte, den Gedanken an sie zu verdrängen, und schrieb weiter: Eins muss man dem Theater lassen: Die Technik hat sich wirklich Mühe gegeben. Auf der Bühne zucken Blitze, Donner grollt, Regen prasselt gegen die Scheiben des Apartments, und man wünscht sich, der Himmel möge seine Schleusen öffnen und eine Sintflut schicken, die alles verschlingt: dieses ganze unsägliche Stück, die klägliche Inszenierung, den farblosen Hauptdarsteller Renzo Mauro und die jämmerliche Protagonistin Maria Santini …
Topo hörte seine Kritik im Autoradio um fünfzehn Uhr auf dem Weg nach Ambra. Zu diesem Zeitpunkt verließ er gerade die Autobahn an der Abfahrt Valdarno und ergötzte sich wie immer an seiner wohlklingenden Stimme, seiner deutlichen Aussprache und der Sprachmelodie, die er einzigartig fand. Keine Stimme war so männlich herb und gleichzeitig so sensibel sanft wie seine eigene, da klang sogar jeder Verriss wie Musik.
Viviana hatte er nach Rositas Anruf binnen weniger Minuten geweckt und aus seiner Wohnung befördert. Sie war etwas verstört über den
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